Neonazismus

Business as usual?!

28.01.2012

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Analyse und Kritik" (ak 568) findet sich auf Seite eins ein gekürzter Beitrag von chronik.LE zur mangelhaften gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Terror des "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU). Ungekürzt kann der Beitrag an dieser Stelle nachgelesen werden.

Etwas läuft schief

Nach Bekanntwerden der Neonazi-Morde bleibt der öffentliche Aufschrei aus

Oktober 2000: Nach dem Brandanschlag auf die Neue Synagoge in Düsseldorf rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder zum „Aufstand der Anständigen“. Obwohl die neonazistische Tatmotivation zunächst nicht zweifelsfrei bewiesen war, ließen sich Politik und Medien schnell auf einen solchen Deutungsrahmen ein. „Anständige“ und „Zuständige“ folgten dem Aufruf mit zahlreichen Bekenntnissen. Trotz kritikwürdiger Aspekte markierte die staatliche wie öffentliche Reaktion auf den Brandschlag eine Zäsur in Anerkennung und Umgang mit dem deutschen Neonaziproblem. Begleitet wurde die Symbolpolitik von einem umfangreichen Ausbau der staatlichen Programme gegen „Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“, und zwar unter Einbeziehung von Zivilgesellschaft und Antifa.

Oktober 2011: Die Taten der Zwickauer Terrorzelle NSU, zehn Morde und zahlreiche Verletzte bei Bombenanschlägen, werden bekannt. Die Öffentlichkeit erfährt, dass Polizei und Verfassungsschutz nicht in der Lage waren, den Zusammenhang und die rassistische Motivation der über ein Jahrzehnt hinweg verübten Taten zu erkennen. Zum Teil wurde noch nicht einmal die Identität der Opfer korrekt erfasst. Politiker*innen fragen sich: „Wie konnte es soweit kommen?“ und versichern gleichzeitig: „Wir sind alle Zwickauer!“ – ganz so, als gälte ihre Solidarität nicht den Opfern, sondern der Lebenswelt, der die Täter*innen entsprangen. Und auch die sogenannte Extremismusforschung tappt im Dunkeln. Von den Ereignissen irritiert salbadert Eckhard Jesse von der TU Chemnitz: „Es wurde immer gesagt: Es gibt keine rechtsterroristischen Strukturen. Dieses Ausmaß konnte man aber nicht ahnen.“ Allseits dominiert Verwunderung, gepaart Imagesorgen. Auf Gedenkveranstaltungen quer durchs Land versammeln sich nur einige hundert Menschen. Trotz der unfassbaren Tragweite der Taten und eines offensichtlichen Versagens (Mitwisserschaft? Unterstützung?) der staatlichen „Sicherheitsbehörden“ bleibt der öffentliche Aufschrei aus.

Im Vergleich zur gesellschaftlichen Reaktion vor elf Jahren läuft also mehr als nur ein bisschen schief. Das hat nicht nur, aber auch mit einer ultrakonservativen Regierung zu tun, der die Bekämpfung eines vermeintlichen „(Links-)Extremismus“ Herzensangelegenheit ist, die in Sachen Rassismus und Neonazismus aber keine besonderen Bedrohungen zu erkennen vermag. Ursächlich sind darüber hinaus reaktionäre bundesdeutsche Diskurslagen, die ihre unheilvolle Wirkmächtigkeit von Ignoranz bis hin zu offener Unterstützung von Ideologien der Ungleichwertigkeit entfalten.

Dabei böte die offenkundige Krise Chancen zu Einsichten: Erstens, dass es gar keine Überraschung ist, dass Nazis prinzipiell zu gezieltem Töten fähig sind. Antifa-Recherchen haben in der Vergangenheit wiederholt auf gewaltsame Nazistrukturen aufmerksam gemacht. Derzeit greifen Medien und absurderweise sogar der VS gern auf ihre Erkenntnisse zurück. Behörden und Öffentlichkeit haben diese Gefahren in ihrer auf „Äquidistanz“ (Jesse) gepolten, anti-(links )extremistischen Verblendung massiv unterschätzt. Zweitens haben Alltagsrassismus und die Ausbreitung von Ideologien der Ungleichwertig ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem staatliche Repression kein geeignetes Mittel mehr ist, neonazistischen Gewaltphantasien Einhalt zu gebieten. Was folgen müsste, wäre ein Richtungswechsel in der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Bekämpfung von Neonazismus, Rassismus und Diskriminierung. Dabei sind Geheimdienste zusammen mit ihren ideologischen Konstrukten, wie dem „Extremismusmodell“, als Teil des Problems und nicht Teil der Lösung zu betrachten. Für ein demokratischeres Miteinander braucht es statt staatlich-repressiver Ablenkungsmanöver wie der Diskussion um ein NPD-Verbot oder der Aufweichung des Trennungsgebotes zwischen Polizei und Geheimdiensten eine öffentliche Debatte um Diskriminierung und staatlich geförderte Exklusion von Migrant*innen. Gute Vorschläge dafür haben Mobile Beratungsteams und Opferberatungsprojekte bereits im November 2011 mit ihrem Aufruf „Was jetzt zu tun ist“ gemacht. Im Gegensatz zum „Anständigen-Aufruf“ ist dieser allerdings bisher weitgehend verpufft.


''Weiterhin möchten wir auf eine neue Broschüre zum Mythos Dresden hinweisen, die ak gemeinsam mit "Der Rechte Rand" herausgebracht hat. Das 24-seitige Heft kann online auf der Webseite von ak abgerufen werden [2,6 MB].''

Zuletzt aktualisiert am 26.01.2022