18.08.2009
Zwischen dem 24. Juni und dem 8. Juli besetzten vier Asylbewerber*innen-Familien die Grimmaer Frauenkirche, um gegen die Zustände in ihrem Heim zu demonstrieren. Die Art und Weise der Unterbringung von Asybewerber*innen in Gemeinschaftsunterkünften ist immer wieder Gegenstand von Kritik. In Grimma offenbarte sich einmal mehr der institutionelle, staatliche Rassismus im Umgang mit Asylbewerber*innen. Der folgende Beitrag beleuchtet diesen Fall vorwiegend auf Basis einer Pressemitteilung der "kritisch intervenierenden Antirassist*innen". Andere Quellen sind als solche gekennzeichnet.
Am 23. Juni 2009 entschlossen sich vier Asylbewerber*innenfamilien, aus dem Heim Bahren bei Grimma in die Grimmaer Frauenkirche zu gehen. Mit dem Umzug in die Kirche sahen die Familien die letzte Möglichkeit, gegen die zum Teil menschenunwürdige Heimunterbringung zu protestieren. Die Zustände im Asylbewerber*innenheim haben sie eigenen Angaben zufolge nicht mehr ertragen können. Stattdessen forderten sie eine dezentrale Unterbringung in privaten Wohnungen. Das Angebot des Landkreises im Heim ein zweites Zimmer zu beziehen, lehnten die Familien ab.(1) Die 18 Migrannt*innen, darunter 10 Kinder, wollten so lange ausharren, bis ihre Forderung nach eigenen Wohnungen erfüllt werde. Dafür nahmen Sie einen unbeheizten Kirchenraum, harte und schmale Kirchenbänke, Verzicht auf warmes Essen und Dusche und die ständige Angst eines Angriffs in Kauf.
Zusätzlich erhöhte sich die Belastung der Familien und besonders der Kinder dadurch, dass sie von zivilgesellschaftlicher Seite fast keine Unterstützung erfuhren. Nach Meinung der "kritisch intervenierenden Antirassist*innen" leisteten lokale Medien hierzu ihren Beitrag, indem sie die miserablen Zustände im Heim verharmlosten, die Migrant*innen kriminalisierten und ihren Forderungen nach menschenwürdiger Behandlung keinerlei Beachtung schenkten. Selbst die Grimmaer Kirchgemeinde habe die Familien so schnell wie möglich aus ihrer Kirche heraus haben wollen: "Man habe denen deutlich zu verstehen gegeben, dass die Anwesenheit in der Kirche nicht länger erwünscht sei"(2). Nur wenige Einzelpersonen stellten sich dem entgegen. Unterstützung bekamen die Familien zudem unter anderem von den GRÜNEN. NPD und parteiungebundene Neonazis nutzten dagegen ihrerseits die Ereignisse für eine Welle rassistischer Hetze, in der sie unter anderem die gewaltsame Räumung der Kirche forderten.
Der öffentliche Diskurs schien eher die Asylbewerber*innen als eigentliches Problem zu wahrzunehmen, anstatt sich mit deren Problemen und Forderungen auseinander zu setzen. Die Betroffenen staatlichen Rassismus wurden, als sie sich Gehör verschaffen wollten, als Störer*innen der öffentlichen Ordnung und im Falle der Kirchenbesetzung in Grimma gar als Täter*innen wahrgenommen.
Das von offizieller politischer und kirchlicher Seite geäußerte Unverständnis für die Aktion übersetzte sich bei der/dem ein oder andere_n Grimmaer_in in eine deutlichere Sprache. In unmittelbarer Nähe der Kirche wurden immer wieder Bürger*innen wahrgenommen, welche mit fremdenfeindlichen und rassistischen Parolen provozierten. Ein Grimmaer Bürger skandierte beispielsweise, dass "eine Handgranate in die Kirche" eine "gute Idee" sei, "sollen sie doch dorthin zurück kehren, wo sie hergekommen sind!".
Nicht zu passen scheint dazu das Bild, dass die Stadt - und allen voran ihr parteiloser Bürgermeister Matthias Berger - immer von Grimma zu zeichnen versucht: Grimma sei tolerant, demokratisch und weltoffen.Der Fall der Asylbewerber*innen aus Bahren aber zeigt: Die Bürger*innen und die lokale Politik haben wenig Interesse, den Migrannt*innen ihre Unterstützung zukommen zu lassen. Stattdessen bestimmen Vorurteile und Ablehnung die offiziellen Reaktionen auf die Besetzung. Berger selbst forderte, "[…] die Leute sollen die Kirche jetzt verlassen […]"(3). Pfarrer Behr spricht für die Kirchengemeinde: "Die Mehrheit hat es wahrscheinlich nicht mitgetragen"(4).
Ausländerbehörde und Landratsamt äußerten sich nach Angaben der "kritisch intervenierenden Antirassist*innen" im Verlaufe der "Kirchenbesetzung" in der Lokalpresse und gegenüber den Familien teilweise widersprüchlich und verharmlosend. Die Behörden teilten die Meinung Bürgermeister Bergers: "[…] es darf nicht in Erpressung ausarten" (5). Die Angst, dass weitere Asylsuchende diese Protestform nachahmen würden, wurde von den Behörden, der Stadt und der Kirche als Legitimation für eine schnelle "Räumung" gesehen. So lange das Asylverfahren noch laufe, könne eine Unterbringung in Wohnungen könne nur in Ausnahmefällen genehmigt werden, äußerte CDU-Landrat Gerhard Gey gegenüber den Radiosendern MDR und mephisto 97.6 (6).
Wie nun die "schnelle Lösung" und "die Beruhigung der Situation" (7) aussah, zeigte sich 14 Tage nach dem Beginn der "Besetzung" der Kirche, als die Familie K* am Abend des 06.07.2009 eine Zuweisungsentscheidung mitgeteilt bekam (6). Darüber wurde die Familie verpflichtet, sich mit Wirkung vom 07.07.2009 im Asylbewerber*innenheim Plauen einzufinden. Andernfalls hätte die Familie mit Freiheits- oder Geldstrafen rechnen müssen. Dementsprechend geschockt reagierten die schwangere Frau, ihr Mann, und die gemeinsame 5-jährige Tochter auf die für sie überraschende Nachricht. Der Ehemann der Familie K* galt der Ausländerbehörde als "Wort- und Rädelsführer" der vier protestierenden Familien in der Kirche, die Lokalpresse dokumentierte dies mehrfach. Sogenannte "Störer" in andere Heime zu verlegen, gilt als normale Praxis unter den Ausländerbehörden. Ende Juli wurden die Anträge zweier anderer an der Aktion beteiligter Familien auf dezentrale Unterbringung bewilligt (7).
Die Verhältnisse im Heim wurden den "kritisch intervenierenden Antirassist*innen" auf einem Heimbesuch offenbar: Privatsphäre und Intimsphäre im Asylbewerber*innenheim existieren nicht. Es müssen sechs Menschen in einem Zimmer leben. Hygienische Mindeststandards scheint es nicht zu geben, dafür Mäuse und Kakerlaken. Die baulichen Mängel und maroden Zustände zeigen sich unter anderem in dünnen Pappwänden, alten Heizkörpern und undichten Fenstern.
Die Heizung im Heim biete im Winter keine ausreichende Wärmezufuhr. Die Gemeinschaftsküche ist von 7 bis 22 Uhr geöffnet. Deswegen können die Kinder ihr Frühstück nicht für die Schule vorbereiten. Da die Schule im sechs Kilometer entfernten Grimma liegt, müssen sie zeitig aufbrechen. Eine direkte Busverbindung vom Heim dorthin gibt es nicht.
Die Duschen, Waschbecken und Toiletten sind teilweise in einem desolaten Zustand. Nach Angaben der Heimbewohner*innen gibt es nur für zehn Minuten warmes Wasser. Das Einkaufen mit den Lebensmittel-Gutscheinen ist den Bewohner*innen nur bei drei verschiedenen Supermarktketten gestattet. Meist besitzen sie nur Gutscheine im Wert von 20 Euro, maximal zehn Prozent des zur Verfügung stehenden Geldes würden den Asylbewerber*innen ausgezahlt. Die Abgeschiedenheit des Asylbewerberheimes sei ein Grund dafür, dass die Migrant*innen sich nur schwer integrieren könnten.
Auch das Verhalten der Heimleiterin wird von einigen Bewohner*innen als autoritär und aggresiv kritisiert, entgegen ihrer Selbstdarstellung als "Oma, Mutter, Aushilfslehrerin und […] Krankenschwester" der Bewohner*innen (8). "Bahren is like a military camp", so die Einschätzung eines Asylbewerbers.
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(1) Vgl. Bericht des MDR Sachsen vom 03.07.2009, angesehen am 13.09.2009
(2) Pfarrer Behr in der LVZ / Muldental vom 03.07.2009
(3) Grimmas Bürgermeister Matthias Berger in der LVZ / Muldental vom 03.07.2009
(4) Pfarrer Behr in der LVZ / Muldental vom 09.07.2009
(5) Grimmas Bürgermeister Matthias Berger in der LVZ / Muldental vom 03.07.2009
(6) Mephisto 97.6 vom 24.06.2009, angesehen am 13.09.2009
(7) Zentrale Ausländerbehörde in der LVZ / Muldental vom 08.07.2009
(6) LVZ / Muldental vom 08.07.2009
(7) LVZ/ Muldental vom 30.07.2009
(8) LVZ / Muldental vom 04.07.2009
Zuletzt aktualisiert am 05.07.2022