Sozialdarwinismus

Der Tod eines Obdachlosen

23.03.2012

Junge Männer treten im sächsischen Oschatz den Obdachlosen André K. zu Tode. Ob rechter Hass das Motiv war, hat die Staatsanwaltschaft nicht ermittelt

Von Michael Kraske

Nicht mal ein Foto ist von André K. geblieben. Als hätte es ihn nie gegeben. Das Wartehäuschen am Südbahnhof im kleinen Oschatz mitten in Sachsen, wo sich der 50-Jährige am Abend des 26. Mai schlafen gelegt hatte, ist neu gestrichen. Die Bank, auf der er mit einem Tritt geweckt wurde, ist entfernt worden. Müll liegt rum. Kein Kranz, keine Tafel erinnern daran, dass junge Männer ihn hier so lange traten, bis er sich nicht mehr rührte.

Dass sie André K. blutend zurück ließen, mit zertrümmertem Gesicht und gebrochenen Rippen. In einem Leipziger Krankenhaus erlag er seinen schweren Verletzungen. Die Tat erscheint anlasslos, die Täter so mitleidlos, dass eine Frage bleibt: Warum?

Diese Frage versucht derzeit die Jugendschöffenkammer des Leipziger Landgerichts zu klären. Die Staatsanwaltschaft hat fünf Männer wegen Totschlags angeklagt, zudem einen 36-Jährigen, weil er dem Opfer nicht geholfen habe. Obwohl André K. gewaltsam aus dem Schlaf gerissen wurde, werten die Ankläger den Angriff nicht als heimtückisch, was Mord bedeuten würde. Auch die Absicht, vermeintlich „minderwertiges“ Leben zu vernichten, ist ein Mordmerkmal. Motiv und Hintergründe, so die Staatsanwaltschaft, „konnten im Verlauf der Ermittlungen nicht vollständig geklärt werden“.

Freitagmorgen, 9 Uhr. Im Saal 14 starren die Angeklagten stur auf die Tischplatten. Da ist Chris K., 16, der wie ein netter Junge aussieht, beinahe zerbrechlich wirkt. Neben ihm legt David O., ebenfalls 16, aber stämmiger, stockend und leise nuschelnd ein Geständnis ab. Immer wieder muss Richter Norbert Göbel nachfragen, weil der Schüler nicht zu verstehen ist. So quält sich das Gericht durch jenen Maiabend, bis sich ein Bild ergibt. Danach begannen drei Schüler nach der Schule, Bier zu trinken. Trafen die älteren Ronny S. und Sebastian B., mit denen sie in einer Wohnung weiter tranken. Dann habe Ronny S., 27, gesagt, ein Nachbar habe Schulden bei ihm. Sie suchten den Nachbarn, der aber nicht da war. Darauf hin habe Ronny S. erklärt, auch André K. habe Schulden und solle eine Abreibung kriegen. Eine krude Geschichte. Wer leiht einem Obdachlosen Geld? David O. hat sich das offenbar nicht gefragt. „Schulden, Geld, ich wusste nichts genaues“, stammelt er, „dass wir hingehen, Abreibung machen, Schulden holen.“ Man habe abgestimmt. Alle hätten „ja“ gesagt.

Dann sind sie los, Sebastian B. nahm sein Samurai-Schwert mit. Sie suchten im Oschatz-Park. Zogen weiter zum Südbahnhof, wo André K. manchmal war. Was da geschah, schildert David O. so: „Da hab ich’s bläken hören und da bin ich halt hin. Wo ich zu dem hin kam ham se auf den eingetreten.“ Er gibt zu, zwei Mal getreten zu haben. Warum? „Gruppenzwang“. Die Staatsanwältin bohrt nach. Nein, keiner habe ihn aufgefordert. „Also haben Sie es besser gefunden, einen wehrlosen Mann zu treten als Außenseiter zu sein“, fragt die Staatsanwältin scharf. Schweigen. Dann schildert der junge Mann, wie Sebastian B. mit dem Samuraischwert zuschlug, die Klinge auf dem Boden abbrach. André K. schrie, krümmte sich, dann röchelte er nur noch, blutend, mit Bier übergossen. Am Ende lag er reglos auf dem Rücken, aber sie traten ihm weiter ins Gesicht. Zwei der Peiniger wollten einen Krankenwagen rufen. Ronny S. habe das verhindert. Später sind sie zurück in die Wohnung und tranken weiter Bier.

Sebastian B., der Mann mit dem Schwert, kastenförmige Brille, Lederjacke, lässt von seinem Anwalt eine Erklärung verlesen. Die Geschichte eines früh gescheiterten Lebens. Lernförderschule bis zur 9. Klasse. Auf dem Arbeitsamt hört er: „nicht vermittelbar“. Er trinkt Bier, Schnaps, probiert Ecstasy, Speed, auch Heroin. Es folgen Entzüge und Rückfälle, jeden Tag ein Kasten Bier. B. räumt die Tritte ein, das Schwert nennt er Messer. Er gibt zu: die Sache mit den Schulden war ein Vorwand. „Es gab sicher keinen Anlass, gegen Herrn K. vorzugehen. Wir haben uns im Suff einen sinnlosen Grund eingeredet.“ Der Text gibt einen tiefen Einblick in ein Leben aus Sauffreundschaften und Gewalt. Verstärkt den Eindruck, dass die ominösen „Schulden“ ein Code sein könnten für: Den machen wir fertig.

Nach der Tat machten Antifa-Seiten im Internet zwei Fotos publik. Eines zeigt den Angeklagten Ronny S. mit NPD-Aktivisten an einem Transparent, auf dem NPD und JN steht – das Kürzel der NPD-Jugendorganisation. Das Foto wurde am Rande einer Demo in Oschatz aufgenommen, bei der die linksalternative Szene gegen geplante Etat-Kürzungen demonstrierte. Ein Teilnehmer erinnert sich, Ronny S. dort gesehen zu haben. Das zweite Foto zeigt auf der Internetseite „myspace“ unter dem Namen Ronny S. einen Mann unter einer Reichskriegsflagge. Ist Ronny S. also ein Rechtsextremist? Sein Mittäter belastet ihn als Wortführer jener Gewaltnacht. Unter Neonazis gelten Obdachlose als Asoziale. War das wahre Motiv also rechter Menschenhass? Ronny S., klein und kräftig, wegen Nötigung und Beleidigung vorbestraft, stand unter Bewährung.

Bei keiner Opfergruppe rechter Gewalt wird so selten das politische Tatmotiv festgestellt wie bei Obdachlosen. Rechercheure der Zeit ermittelten 28 Obdachlose, die zwischen 1989 und 2010 aus kollektivem Hass gegen „Asoziale“ ermordet wurden. Nur sieben wurden offiziell als Opfer rechter Gewalt anerkannt. Karl-Heinz Teichmann nicht. Der Obdachlose schlief im Jahr 2008 auf einer Parkpank hinter der Leipziger Oper, als ihn ein 18-Jähriger angegriff und brutal zusammen schlug. Der Täter ließ sein blutüberströmtes Opfer liegen, kam aber noch mal zurück, um weiter zu prügeln. Der junge Mann hatte am Vorabend an einer Mahnwache der rechtsextremen „Freien Kräfte Leipzig“ teilgenommen. Das Gericht ignorierte die menschenverachtende Gesinnung. Obwohl selbst der Verteidiger in einem Interview einen rechten Hintergrund einräumte, heißt es im Urteil: „Aus seiner schlechten Laune heraus störte ihn der Anblick des schlafenden Mannes, dessen Schlafplatz er willkürlich als unpassend bewertete.“ Gerichte konstruieren bisweilen absurde Motive, um rechten Menschenhass übersehen zu können. Was der Soziologe Wilhelm Heitmeyer „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ nennt, scheint vielen Juristen unbekannt. Der Terror der NSU hat die Sensibilität nicht erhöht.

André K. hatte einen Sohn und eine Tochter, die aber nicht zur Verhandlung gekommen sind. Sie treten als Nebenkläger auf. Deren Anwältin kritisiert in einer Pause, dass die Staatsanwaltschaft den rechtsextremen Hintergrund von Ronny S. nicht aufgeklärt habe. Die einschlägigen Fotos fehlten in der Prozess-Akte. Anders gesagt: Die Staatsanwaltschaft hat dazu nicht ermittelt. Wie erklärt sie sich das? „Wie immer: Rechte Gewalt darf es nicht geben“, sagt die Anwältin. Die Behörde teilt lapidar mit: „Hinweise auf eine rechtsextremistische Motivation für die Tat haben sich nicht ergeben.“ Sicher, eine rechte Gesinnung ist nicht automatisch das Tatmotiv. Aber keine Hinweise?
Sprecher Ricardo Schulz lehnt auf Nachfrage eine Stellungnahme zu den Ermittlungen ab. Das Motiv solle in der Verhandlung geklärt werden. Nur: Was nicht ermittelt ist, kann auch nicht verurteilt werden. Später wird die Nebenklägerin das myspace-Foto in der Verhandlung verteilen. Ein Bekannter von Ronny S. wird bestätigen, dass es in dessen Wohnung aufgenommen wurde und Freunden die rechte Gesinnung von Ronny S. bekannt war. Gleichwohl wird der Chefermittler dabei bleiben: Kein Hinweis auf einen rechtsextremen Hintergrund.

Ein Zeuge kommentiert eine andere Version: Darin geht es um eine Scheune des Opas von Ronny S., die André K. angeblich vor Jahren angezündet habe. Der Zeuge kennt die Geschichte anders: André K. soll erzählt haben, der Opa habe die Scheune angezündet. Von einer Anzeige ist die Rede. Gerüchte, Spekulationen. „Ich weiß nicht, ob das stimmt“, sagt der Zeuge. „Ich weiß auch nicht, ob das stimmt“, sagt die Staatsanwältin. Schulden. Eine brennende Scheune. Eine Anzeige. Rätsel, die Ermittler vor einem Prozess aufklären müssten.

Man erfährt an diesem Tag, dass die Angeklagten mit Blut an Händen, Shirts und einer Army-Hose zurück kehrten und guter Dinge waren. Dass Ronny S. den anderen gedroht habe, nichts zu verraten. Man ahnt, es gab Mitläufer und Anführer, Verführte und Peiniger, die es genossen zu quälen. Dass Alkohol eine Rolle spielte, die Tat aber nicht erklären kann. Und man hört, dass zwei Täter ihr geschundenes Opfer mit dem Kopf auf die Gleise gelegt haben sollen, bevor sie es sich anders überlegten und ihn zurück ins Wartehäuschen schleiften. Einblicke in menschliche Abgründe. Für einen kurzen Moment wird aus dem Opfer, dessen Namen sich der Richter immer wieder soufflieren lassen muss, ein Mensch. Zeuge Danilo H., den die Täter am frühen Abend fertig machen wollten aber nicht antrafen, hatte André K. eine Weile bei sich wohnen lassen: „Den kannte ich sehr gut. Das war ein sehr netter Mensch“, sagt er, „sehr liebenswürdig.“ Wie seine Peiniger ihn nannten, erfährt man nicht. Penner? Asi?

Sozialarbeiterin Anja Kohlbach sitzt im alternativen Jugend-Club E-Werk in Oschatz, wo sie Konzerte und Lesungen organisiert. Ein Treffpunkt, den die Angeklagten wohl nie besucht hätten. Sie erzählt von der Mahnwache, die sie für André K. organisiert hatte. Der Bürgermeister war da, einige Stadträte, der Pfarrer hielt eine kurze Ansprache, bevor sie einen Kranz niederlegten. Danach hätten sie einige Lokalpolitiker zur Seite genommen. Sie solle das nicht an die große Glocke hängen. Auf keinen Fall dürfe sie sagen, das sei eine politische Tat. Das schade der Stadt. Der bekannte Reflex: Die Sorge um den guten Ruf. Die junge Frau schüttelt den Kopf. Über André K. weiß Anja Kohlbach wenig. Nicht mal im Obdachlosenheim konnten sie ihr etwas über ihn erzählen. Es heißt, er sei häufig zwischen Berlin und Oschatz gependelt.

Oschatz ist eine Kleinstadt, 16000 Einwohner, mit malerischer Altstadt und trostlosen Wohnsiedlungen. Ereignisarme Provinz in der Mitte Sachsens. Die größte Attraktion ist das Stadt-Museum, wo historische Waagen ausgestellt werden. Der Tod von André K. war eine kurze Sensation, mehr nicht. Man kann das Entsetzen nur erahnen, das den Ort ergriffen hätte, wäre André K. kein Obdachloser gewesen. Es gibt eine Hierarchie der Opfer. Mitgefühl und Anteilnahme bemessen sich am Status. Obdachlose sind ganz unten.

Der Ruf eines Singvogels begleitet Anastasia Krotova über eine Wiese am hinteren Ende des Leipziger Ostfriedhofs. Zur Beerdigung kam sie damals eine halbe Stunde zu spät. Die Leute von der Stadt hatten nicht Bescheid gesagt. Seit André K. erschlagen wurde, begleitet sie den Fall für einen Opferverein. Vor einem Feld mit Holzkreuzen faltet sie den Zettel vom Friedhofsverwalter auseinander. III 7. 623 steht da. Sie zeigt auf Steinplatten, neben denen ein Stück Metall oder Holz aus dem Boden ragt, daneben Erdflecken wie Maulwurfshügel. „Eins von diesen Urnengräbern ist es“, sagt sie, „Holzkreuze werden wohl nicht mehr aufgestellt, die sind zu teuer.“ Sie geht von Reihe zu Reihe, versucht sich zu erinnern, aber Sozialgräber sehen alle gleich aus. Keine Zahl, kein Buchstabe auf den Steinen. Postum gelöschte Leben. Anastasia Krotova gibt auf: „Tut mir leid, ich finde es nicht mehr.“ Auf einem Schild steht, dass es verboten ist, Namen anzubringen oder Blumen zu pflanzen. Nichts darf an André K. erinnern.

Anmerkung der Redaktion: Diese Reportage wurde uns freundlicherweise vom Autor Michael Kraske zur Verfügung gestellt. Eine ähnliche Version erschien am 15. März 2012 unter dem Titel "Ein ausgelöschtes Leben" in der Stuttgarter Zeitung.

Zuletzt aktualisiert am 26.01.2022