Sozialdarwinismus

Behinderte Menschen als Kostenfaktor - Dieses Denken ist auch heute noch ganz gefährlich

25.07.2009

GUNTER JÄHNIG VOM BEHINDERTENVERBAND LEIPZIG IM INTERVIEW

Die Maxime des Behindertenverbandes Leipzig (BVL) lautet: „Einander verstehen – miteinander leben“. Für die Interessen behinderter Menschen setzt er sich ein, gemeinsam mit dem Stadtverband der Hörgeschädigten, mit dem Blinden- und Sehbehindertenverband und der Selbsthilfegruppe für Augenerkrankungen „Pro Retina“. Der BVL betreibt unter anderem einen Behindertenfahrdienst und eine Freilandschule und Begegnungsstätte am Elsterstausee. Im März 2009 sprach chronik.LE mit dem Geschäftsführer des BVL, Gunter Jähnig, über die Anliegen des Verbandes, Behindertenabwertung und Erinnerungskultur in Leipzig.

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Behindertenverband Leipzig e.V.
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chronik.LE: Der Behindertenverband Leipzig versteht sich als Interessenvertreter von Menschen mit Behinderung. In welchen Bereichen müssen Sie besonders für die Interessen von behinderten Menschen eintreten?

Gunter Jähnig: Wir haben verschiedene Projektbereiche. Zum einen die Beratungsstelle für barrierefreies Bauen und Planen. Dabei geht es uns darum, dass die Umwelt so gestaltet wird, dass Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen am Leben ganz normal teilnehmen können. Da geht es nicht nur um Bauen, sondern auch um Information und Kommunikation.

Außerdem haben wir einen Stadtführer für Menschen mit Behinderungen gemacht, in dem es uns um Zugangskriterien geht: Wie komme ich in ein Gebäude? Was finde ich vor? Gerade für Menschen mit Lernbehinderung oder mit geistiger Behinderung geht es darum, dass sie mit leichter Sprache konfrontiert werden. Das heißt keine kindliche Sprache, sondern eine Sprache, die diese Menschen wirklich erreichen kann. Für Gehörlose und schwerhörige Menschen stellt sich die Frage der Informationsaufnahme. Hier ist es wichtig, dass es zu einem Stück Normalität wird, dass Gebärdensprache-Dolmetscher zur Verfügung stehen. Für Blinde und sehbehinderte Menschen ist es essentiell, dass akustische Informationen angegeben werden. Es geht immer um das Zwei-Sinne-Prinzip: Sehen und Hören – Tasten kann eines davon ersetzen – so dass sich einfach jeder Mensch zurechtfinden kann. Das muss in die Köpfe der Menschen getragen werden.

Sie haben von Barrieren und Grenzen gesprochen, die Behinderten im Raum begegnen. Was verstehen Sie denn generell unter Behindertenabwertung?

Behindertenabwertung ist für mich, wenn jemand ganz bewusst sagt, ich möchte in meiner Einrichtung keine Menschen mit Behinderung haben. Solche Leute gibt es. Wir werden zum Beispiel damit konfrontiert, dass in einer Arztpraxis gesagt wird: An sich wollen wir keine behinderten Menschen als Patienten. Das ist eine schlimme Situation. Da stellt sich die Frage, ob das etwas Prinzipielles ist oder ob es damit zu tun hat, dass die Budgetierung dazu führt, dass der Arzt sagt, ich bekomme ja gar nicht das Geld in dem Umfang, wie ich hier Beratungsgespräche zu führen hätte. Ich denke, es ist die Ausnahme.
Ein anderes Beispiel: In einer Gaststätte sagt jemand, ich möchte hier keine Menschen mit Behinderung haben. Das bekommen die Betroffenen meist nicht ins Gesicht gesagt, aber ihnen wird dieses Gefühl vermittelt. Das sind aber Ausnahmefälle. Schlimm genug, dass es sie gibt.

Das heißt, Sie hören selten von Menschen mit Behinderung, die auf der Straße oder in öffentlichen Einrichtungen offen angefeindet wurden?

Es gibt solche Verbrechen, die in den Medien umfangreich dargestellt werden. Durch sie kann man schnell den Eindruck bekommen, es handelt sich um ein Alltagsproblem. In der Verallgemeinerung muss ich sagen, ist das wirklich eine Ausnahme. Zum Beispiel bei Arbeitgebern: Die sagen das natürlich nicht so direkt, aber vermitteln trotzdem, Behinderung sei defizitär. Das ist ein stark verbreitetes Denken. Sie wissen nicht, wie hochmotiviert Menschen mit Behinderung an die Lösung von Aufgaben herangehen können, wenn man ihnen die Chance dazu gibt. Die Gesetzgebung hat über das Sozialgesetzbuch IX Instrumentarien entwickelt, über die es Nachteilsausgleiche gibt. So bekommen Menschen mit Behinderung dann auch Arbeitsplätze zugesprochen. Es gibt das verbreitete Denken: Behinderung = defizitär, Behinderung = Leid. Das ist das große Problem. Da muss ein Paradigmenwechsel erfolgen. Wenn die Gesellschaft den Rahmen dazu geben würde, könnten behinderte Menschen ein Leben wie alle anderen auch führen. Behinderung ist kein Defizit an sich, sondern sie ist eine Situation, die mit Nachteilen verbunden ist, die man ausgleichen kann, wenn man bereit dazu ist.

Warum nehmen Leute Ihrer Meinung nach Behinderung immer noch als Defizit wahr? Es gibt ja auch das Beispiel, dass immer mehr werdende Eltern ihr noch nicht geborenes Kind abtreiben lassen, wenn sie von der Ärztin oder dem Arzt erfahren haben, dass es eine Behinderung hat.

Das ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit. In der Gesellschaft wird kommuniziert, dass da Leid auf die Menschen zukommt. Eltern, die vor dieser Entscheidung stehen, haben oftmals nicht den Mut zu sagen, ich stelle mich dieser Situation. In der Tat ist es ja erst einmal schwierig. Ein Kind mit Behinderung groß zu ziehen, ist mit mehr Aufwendungen verbunden als eines ohne Behinderung. Jedoch blenden die Eltern oft aus, dass zum Beispiel Kinder mit Down-Syndrom ein sehr, sehr liebevolles Miteinander in der Familie fördern können. Es ist wichtig, dass in der Gesellschaft nicht nur vermittelt wird, dass wir jung und dynamisch sein sollen, sondern dass wir füreinander da sein sollen. Wenn eine Gesellschaft Bereitschaft dafür zeigt, dann wird sich dahingehend auch das Denken ändern. Wir müssen ungemein viel innerhalb der Gesellschaft tun, damit sich die Leute positiv mit Behinderung auseinandersetzen. Es darf nicht vorkommen, dass Ärzte angeklagt werden, weil sie nicht erkannt haben, dass das Kind mit einer Behinderung zur Welt kommen wird. Das führt dazu, dass Ärzte verunsichert sind, und dass der Prozess des Nicht-Annehmen-Wollens oder -Könnens immer stärker eine Rolle spielt. Es ist zum Beispiel auch in der Ausbildung wichtig, dass wir die Menschen mit Behinderung mit integrieren. Nicht einfach ausgrenzen oder separieren, sondern versuchen zu zeigen, dass man zusammen sein kann. Der Mensch hat eine Veranlagung, erst einmal ein Distanzverhalten aufzubauen, eine so genannte Xenophobie. Es ist wichtig zu lernen, damit umzugehen. Durch Wissen und Auseinandersetzung lässt sich diese Xenophobie abbauen. Dann würden Kinder auch gar nicht erst in den Prozess der Berührungsängste und der Vorurteile kommen.

Behindertenabwertung geschieht Ihrer Erfahrung nach also meist unbewusst?

Es ist die absolute Ausnahme, dass Leute Behinderte bewusst ausschließen. Oftmals ist es eher ein Unbeholfensein. Dass man nicht so recht weiß, wie gehe ich jetzt mit diesem Menschen um. Daraus resultiert dann ein Fehlverhalten. Ich nenne mal das Beispiel eines Blinden: Er stand an der Kreuzung, aber wollte gar nicht auf die andere Straßenseite. Trotzdem kam sofort jemand, der ihm vermeintlich helfen wollte und brachte ihn, ohne ihn vorher zu fragen, auf die andere Seite der Straße. Dabei wollte die blinde Person gar nicht dahin. Oder das Beispiel der Blinden-Leitlinie: Wenn man nicht weiß, dass diese in den Boden gefräste Linie an Straßenbahnhaltestellen ein Leitsystem für Blinde ist, kann man natürlich nicht damit umgehen. Dann stellen die Leute ihr Fahrrad darauf [...]. Diese Dinge müssen vermittelt werden.

[img_assist|nid=1009|title=|desc=Foto: www.le-online.de|link=none|align=right|width=186|height=250]2009, also vor 70 Jahren, begannen die NS-Euthanasieverbrechen an behinderten Kindern. Es ist Ihr Anliegen, eine Gedenktafel am Universitätsneubau auf dem Augustusplatz aufzustellen. Sie sind schon seit Längerem im Gespräch mit der Universität Leipzig, jedoch will die lieber einen Gedenkstein in Reudnitz. Wie weit sind Sie bisher mit Ihren Bemühungen gekommen?

Zum historischen Hintergrund: Die Euthanasieverbrechen an behinderten Kindern haben im Sommer 1939 in Leipzig begonnen. Hitler hat auf September 1939 einen Führererlass datiert, in dem die „Euthanasie“ – in der Sprache der Täter, denn eigentlich heißt Euthanasie „schöner Tod“ – also die Euthanasieverbrechen freigegeben worden sind. Es hat dazu nie ein Gesetz gegeben, es war eine Handlungsanweisung. Die Leute wurden aus der Verantwortung genommen, indem gesagt wurde, ihr könnt das unter bestimmten Kriterien tun. Das jährt sich zum 70. Mal. Deswegen wollen wir am 31. August

2009 in der Nikolaikirche gemeinsam mit dem Superintendenten Martin Henker ein Friedensgebet durchführen. Wir wollen mahnend daran erinnern und wir wollen auf das Mahnmal hinweisen, dass am Neubau der Universität aufgestellt werden soll, damit es in der Auseinandersetzung verschiedener Fakultäten eine Rolle spielen kann. In der Kinderklinik in der Oststraße sind die Verbrechen losgegangen. Die Kinderklinik gibt es nicht mehr, das wäre ein leeres, ein totes Gedenken. Uns geht es um die Auseinandersetzung.

Es geht uns außerdem um Karl Binding, einen Rechtsprofessor, einen Strafrechtler in Leipzig. Er war zweimal Rektor an der Universität Leipzig. Vor 100 Jahren, zur 500-Jahr-Feier der Leipziger Universität, ist er gerade Rektor gewesen. Anlässlich seiner Emeritierung im Jahre 1913 hat er die Ehrenbürgerwürde der Stadt bekommen und 1920 hat er das Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ veröffentlicht. Das zählt zu den geistigen Wurzeln der Euthanasieverbrechen. Er war nicht der Einzige, aber für Leipzig war er derjenige welcher. Die Inhalte des Buches, das er gemeinsam mit dem Psychiater Alfred Hoche geschrieben hat, sind von den Nazis umgesetzt worden. Er ist nicht missbraucht worden, aber es hat den Nationalsozialismus gebraucht, um seine Ideen in die Realität umzusetzen.

Auch von Prozessen nach 1945 sind mir Rechtfertigungen bekannt, die Autoren hätten Leid verhindern wollen, sie seien sich um das Unrecht ihres Tuns nicht bewusst gewesen. Und das ist das Gefährliche: Das Bewusstsein, dass dort Verbrechen verübt worden sind, wurde nicht geschaffen. Die Leute waren alle gläubige Nazis, und sie meinten, richtig zu handeln. Zum Einen wollen wir das durch das Mahnmal in die Öffentlichkeit tragen, zum Anderen soll Karl Binding in diesem Jahr die Ehrenbürgerwürde aberkannt werden. Hier muss die Stadt Leipzig ein Zeichen setzen. Die Leute sollen sich damit auseinandersetzen und sagen, es geht nicht, dass wir 2009 noch immer jemanden als Ehrenbürger haben, der in dem Kontext die Ehre nicht verdient. Und zu der medizinischen und juristischen Seite kommt noch der wirtschaftliche Faktor hinzu: Behinderte Menschen als Kostenfaktor – dieses Denken war ja vorhanden und ist noch gegenwärtig. Vielen Leuten geht es immer um Nutzen für die Gesellschaft – und dieses Denken ist auch heute noch ganz gefährlich.

Uns geht es nicht nur um den Blick zurück, sondern auch um den Blick nach vorn. Deswegen soll auf der Gedenktafel stehen: „Wider das Vergessen in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Leipzig 1939 – Beginn der Tötung behinderter Kinder. Genannt Euthanasie“.

Zuletzt aktualisiert am 26.01.2022