Neonazismus

Geschäftstüchtig und gewaltbereit. Ein Überblick zur rechten Mischszene in Wurzen

31.12.2021

Die Kleinstadt Wurzen im heutigen Landkreis Leipzig galt in den 1990er Jahren als eine der bundesweit ersten „national befreiten Zonen“. Seitdem ist hier eine beachtliche Kontinuität extrem rechter Aktivitäten zu beobachten. In der Dokumentation von chronik.LE sind für die Stadt an der Mulde seit 2008 beinahe 250 einzelne Vorfälle und Ereignisse
verzeichnet.1 Die neonazistische Szene der Stadt verfügt mittlerweile über erhebliche finanzielle Ressourcen und erschließt sich neue Geschäftsfelder. Statt der NPD sitzen mit der AfD und dem „Neuen Forum für Wurzen“ (NFW) gleich zwei extrem rechte Gruppierungen im Stadtrat. Außer dem erfährt die rechte Szene mittlerweile wieder starken Zulauf durch die junge Generation.
Die Trennlinien zwischen unterschiedlichen Strukturen bleiben oftmals unscharf, es gibt zahlreiche Schnittmengen. Eine entscheidende Rolle sowohl für die lokale Vernetzung als auch für die Einbettung in überregionale Strukturen spielen
einige herausragende Einzelpersonen. Diese sind einerseits unternehmerisch und in der Kommunalpolitik tätig, andererseits bieten sie mit ihren Aktivitäten und Angeboten im Bereich Kampfsport insbesondere für jüngere Leute einen attraktiven Anknüpfungspunkt. Zu beobachten ist zudem ein verstärkter Ankauf von Immobilien. Eher klassische Neonazi-Strukturen sind dagegen seit einiger Zeit weniger bedeutsam, auch wenn zuletzt wieder verstärkte Aktivitäten der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationalisten“ beobachtet werden können.
In diesem Dossier beschreiben wir diese Entwicklungen mit einem Fokus auf die aktuelle Situation in Wurzen. Nach einem kurzen Rückblick in die 1990er Jahre werden die Bereiche Unternehmen und Immobilien, Kampfsport, Jugendgruppierungen und Kommunalpolitik beleuchtet. Aufgrund andauernder Veränderungsprozesse handelt es sich dabei nur um eine Momentaufnahme.

Rückblick: Eine national befreite Zone?

Unter der Überschrift „Modell einer gelungenen lokalen Kulturrevolution“ wurde Wurzen 1998 in dem Rechtsrock-Fanzine „Neue Doitsche Welle“ als Vorbild für die Errichtung „national befreiter Zone“ beschrieben. Der Begriff geht auf ein Strategiepapier zurück, dass bereits 1991 in einer Zeitschrift des NPD-nahen „Nationaldemokratischen Hochschulbundes“ veröffentlicht wurde. Darin heißt es:


„Wir müssen Freiräume schaffen, in denen wir faktisch die Macht ausüben, in denen wir sanktionsfähig sind, d.h. wir bestrafen Abweichler und Feinde, wir unterstützen Kampfgefährtinnen und -gefährten, wir helfen unterdrückten, ausgegrenzten und verfolgten Mitbürgern. Das System, der Staat und seine Büttel werden in der konkreten Lebensgestaltung der politischen Aktivisten der Stadt zweitrangig. [...] Wir sind drinnen, der Staat bleibt draußen. [...] Befreite Zonen sind sowohl Aufmarsch- als auch Rückzugsgebiete für die Nationalisten Deutschlands.“2


Um dieses Ziel zu erreichen, sollten durch den Aufbau sogenannter nationaler Betriebe eigene Wirtschaftskreisläufe etabliert werden, um unabhängig von staatlicher Repression oder gesellschaftlichem Druck agieren zu können. Darüber hinaus sollte die „Vorherrschaft in den Herzen und Köpfen“ errungen werden: „Man muß so handeln, daß man in einem Meer der Sympathie schwimmt, daß die ‚normalen‘ Bewohner für uns die Hand ins Feuer legen.“
In Gänze wurde diese Strategie aus dem neu-rechten Elfenbeinturm in den 1990er Jahren weder in Wurzen noch anderswo umgesetzt.3 Die im Rückblick mittlerweile treffend als „Baseballschläger-Jahre“ beschriebene Phase nach der Vereinigung von BRD und DDR war in Wurzen wie in vielen anderen Orten vielmehr eine Zeit krasser Gewalt gegen Geflüchtete, ausländische Arbeitskräfte und nicht-rechte Jugendliche, des Ringens um die Vorherrschaft v.a. an Schulen, in Jugendclubs und Diskotheken sowie einer Ignoranz und eines Versagens staatlicher Strukturen.
Eine Besonderheit Wurzens und des Muldentals war zu dieser Zeit möglicherweise die relativ straffe Organisierung verschiedener Kameradschaften und „Jungsturm“-Gruppen. Der harte Kern der Neonazis besetzte 1995 einen leerstehenden Gebäudekomplex in der Nähe des Bahnhofs und baute diesen zu einer regelrechten Festung aus. Dieses überregional bedeutsame Zentrum der rechten Szene wurde erst knapp ein Jahr später geräumt.4
Der an der Besetzung beteiligte Kameradschaftsführer wurde schließlich bei der Kommunalwahl 1999 mit einem Ergebnis von 5,1 Prozent für die NPD in den Wurzener Stadtrat gewählt. Fünf Jahre später kam die Neonazi-Partei auf knapp zwölf Prozent und stellte sogar drei Stadträte.5 Angesichts des heutigen Zuspruchs für die AfD und andere extrem rechte Gruppierungen wirkt dieses Ergebnis fast noch bescheiden. Und auch der in dem Strategiepapier von 1991 als Schlüssel für den Aufbau „befreiter Zonen“ vorgeschlagene Aufbau eigener Betriebe und „Wirtschaftskreisläufe“ begann in Wurzen sichtbar erst Anfang der 2000er Jahre.


Neonazistische Wirtschaftskreisläufe
Heute ist die Neonaziszene in Wurzen und Umgebung durch ein schwer durchschaubares Unternehmensgeflecht geprägt. Lange Zeit standen dafür vor allem der offen neonazistische Versandhandel „Front Records“ und dessen Ableger. Gegründet wurde das Unternehmen vor etwa 20 Jahren von einem aus Schildau in Nordsachsen stammenden Neonazi.
Der Standort und die Rechtsform sowie die Inhaber von „Front Records“ haben über die Jahre immer wieder gewechselt. Von 2004 bis etwa 2010 war das Unternehmen in der Walther-Rathenau-Straße in Wurzen gemeldet. Danach wurde der offizielle Sitz auf ein Grundstück im nahegelegenen Falkenhain (Lossatal) verlegt – quasi auf halben Weg zwischen Wurzen und Schildau. Als Inhaber des Labels firmierten ab 2010 nacheinander einige Unternehmen mit ähnlich klingenden Namen wie Falkenhainer Textil UG, Muldentaler Texil UG und Küsten Textil UG. Letztere ist vor kurzem nach Artern im Kyffhäuserkreis (Thüringen) umgezogen. Inwiefern die Produktion bzw. der Versand der über „Front Records“ gehandelten Produkte weiterhin über die früheren Standorte in Wurzen oder Falkenhain erfolgt, ist unklar. Das geschäftliche Know-How und die über die Jahre angehäuften Gewinne bleiben der Region aber vermutlich erhalten.
Im Umfeld von „Front Records“ sind über die Jahre immer wieder andere Unternehmen aufgetaucht, die weniger politisch auftreten. Dazu gehören u.a. folgende Geschäftsfelder: Kfz-Handel und Vermietung, Tattoo-Studios, der Handel mit Textilien, der Betrieb von Solarien, Videotheken und Kosmetikstudios, Eventorganisation und Gastronomie. Trotzdem sind bei den Betreiber*innen und Mitarbeiter*innen Verbindungen in die extrem rechte Szene vorhanden.
Besonders auffällig sind diese Verbindungen bei dem bekannten Hooligan und Kampfsportler Benjamin Brinsa, der seit 2019 für die Vereinigung „Neues Forum für Wurzen“ im Stadtrat sitzt. Der aus Leipzig stammende Brinsa wohnt seit mehr als zehn Jahren in Wurzen. Im Jahr 2010 hat er zusammen mit dem Gründer von „Front Records“ ein Unternehmen mit dem Namen A & B Service UG mit Firmensitz in Falkenhain gegründet. Das Kürzel „A & B“ kann als Verweis auf die Gruppierung „Aryan Brotherhood Germany“ interpretiert werden, die ein paar Jahre zuvor bereits in Leipzig aktiv war.
Ende 2013 eröffnete Brinsa in Wurzen sogar einen eigenen Laden namens „Streetwar“. Untergebracht war dieses Geschäft im ehemaligen Sitz von „Front Records“ in der Walther-Rathenau-Straße. Parallel betrieb er seine Karriere als MMA-Kämpfer und -Trainer für das „Imperium Fight Team“ weiter und war beteiligt an Kampfsport-Events wie der „Imperium Fighting Championship“ in Leipzig (2014 bis 2016). Als Vorläufer dieser Reihe gelten zwei vor allem von Neonazis besuchte Veranstaltungen mit dem Titel „Sachsen kämpft“ 2012 und 2013 in Schildau.6
Mittlerweile ist Brinsa offenbar selbst ins Immobiliengeschäft eingestiegen. In verschiedenen Berichten7 wird er 2019 zusammen mit drei weiteren Personen als mutmaßlicher Käufer eines großen Gebäudekomplexes in der Dresdner Straße genannt. Der Industriebau beinhaltet u.a. eine Spielothek, eine Pension und eine Konzerthalle. Im August 2019 ist hier die Neonazi-Hooligan-Band „Kategorie C“ aufgetreten – offenbar anlässlich des 30. Geburtstags von Benjamin Brinsa. Im März 2020 sollte hier ein Club eröffnet werden, was jedoch aufgrund der Corona-Pandemie verschoben werden musste. Im Juni 2021 fand dann auf dem Gelände eine Veranstaltung namens „Napoles Open Air“ statt.
Beim „Napoles“ handelt es sich um eine Shisha-Bar in der Jacobsgasse. Benannt ist die Bar nach einem Anwesen des kolumbianischen Drogenhändlers Pablo Escobar. Als Betreiber der Lokalität wird eine „CN Vergnügungsstätten UG“ angegeben. Gegenstand dieses 2017 gegründeten Unternehmens sind das Aufstellen von Spielautomaten, der Betrieb gastronomischer Einrichtungen sowie von „Massagestudios“.
Bedenklich müssen insbesondere mögliche Verbindungen in illegale bzw. illegalisierte Geschäftsfelder stimmen und die Zusammenarbeit mit alteingesessenen lokalen Unternehmen, die anscheinend kein Problem mit solchen Geschäftspartnern haben und dadurch zu deren Normalisierung beitragen. Dafür steht beispielhaft ein Foto, das Benjamin Brinsa im März 2019 auf seiner Facebook-Seite gepostet hat. Es zeigt ihn vor dem „Napoles“ Arm in Arm mit Frank Hanebuth, dem langjährigen Präsidenten der „Hells Angels“ aus Hannover, und einem lokalen Unternehmer, der u.a. in den Bereichen Abbruch, Entrümpelung und Baustoffhandel tätig ist. Brinsas Kommentar dazu lautet: „Unbeugsam, unabhängig und geradlinig in einen [sic!] Foto vereint!“ Das kann als Botschaft an potenzielle Konkurrent*innen verstanden werden.
Seit einiger Zeit spielen in der extrem rechten Szene Wurzens Immobilien, u.a. Wohnhäuser, eine immer größere Rolle. Woher das Kapital für diese Ankäufe und die teilweise erforderlichen Investitionen stammt, ist unklar. Offensichtlich ermöglichen der Betrieb und die Verwaltung dieser Wohnhäuser und anderer Objekte einer großen Zahl an Personen ein finanzielles Auskommen. Hier können Veranstaltungen stattfinden und soziale Kontakte gepflegt werden. Dies wird erleichtert durch einen Verzicht auf einen offensichtlichen politischen Charakter.


Kampfsport als Rekrutierungsfeld und Lebenswelt
Um zu verstehen, in wie vielen Bereichen die Akteur*innen aus dem Wurzener Geflecht miteinander in Verbindung stehen, ist ein Blick in die Kampfsportszene notwendig. Eine sportliche und organisatorische Professionalisierung von extrem rechten Kampfsportlern in und um Leipzig lässt sich auf Anfang der 2000er Jahre datieren. Für Wurzen sind hier vor allem die „Fighting Fellas 28“ zu nennen. Das Zahlenkürzel im Namen kann in diesem Zusammenhang auch als Referenz auf das seit 2000 verbotene „Blood & Honour“ Netzwerk verstanden werden. Die Gruppierung wurde von einem Wurzener Unternehmer des lokalen Firmengeflechts gesponsert und ihre Kämpfer nahmen an verschiedenen extrem rechten Kampfsportveranstaltungen in Sachsen teil.
Bereits zu dieser Zeit wird die Verschränkung von Hooliganismus, professionalisiertem Kampfsport und Einsatz von Gewalt im Rahmen von extrem rechten Angriffen deutlich. Dies hängt nicht zuletzt auch mit einer Veränderung der deutschen Hooligan-Subkultur zusammen. Sie entwickelt sich weg von spontanen Auseinandersetzungen im Stadionumfeld hin zu geplanten und mit gezieltem Training und Taktiken verbundenen Kämpfen in Wäldern und auf Wiesen, den sogenannten Ackermatches. Im Zuge dessen ist eine bis heute anhaltende Professionalisierung der Gewaltkompetenz im Kampfsport zu beobachten.8
Die Folgen dieser Entwicklung zeigen sich an einer Reihe von gewaltsamen Übergriffen. So beteiligten sich Mitglieder der „Fighting Fellas“ an dem Überfall auf Fans des „Roten Stern Leipzig“ bei einem Fußballspiel in Brandis im Jahr 2009 und verletzten Spieler und Fans teilweise schwer. Neben Mitgliedern der „Fighting Fellas“ waren weitere Neonazis aus der Region dabei, u.a. Mitglieder der „Terror Crew Muldental“.9
Beim Angriff von über 200 Neonazis und Hooligans auf den Leipziger Stadtteil Connewitz im Januar 2016 waren auch Mitglieder des „Imperium Fight Teams“ (IFT) beteiligt. Als Trainer des IFT tritt u.a. Benjamin Brinsa auf. Beteiligt waren am Angriff auch Täter anderer Neonazi-Gyms und aus Hooligan-Strukturen, insbesondere aus denen des 1. FC Lokomotive Leipzig.


Nachwuchs-Kämpfer: Die 808-Crew
Ein neueres Phänomen in Wurzen ist eine Gruppe junger Männer Anfang 20, die zeitweise unter dem Namen „808-Crew“ oder „808er“ agierte und seit etwa 2018 in Erscheinung tritt. Die Gruppierung wartet eher selten mit explizit neonazistischen Bekenntnissen auf und ist nicht in klassischen extrem rechten Strukturen wie den Jungen Nationalisten (JN) oder der NPD organisiert. Nichtsdestotrotz erinnert ihr Agieren teilweise an das einer Freien Kameradschaft, weshalb sie von Beobachter*innen auch als Kameradschaft 808 bezeichnet wird.
Spätestens ab Ende 2017, verbunden mit dem Umzug des Imperium Fight Teams von Eilenburg nach Leipzig in die Kamenzer Straße, standen zunehmend junge Männer aus Wurzen auf der Matte. Viele von ihnen sind der selbsternannten 808-Crew zuzurechnen. Dazu gesellen sich seit dem Umzug des Gyms jüngere Personen aus der Fanszene von Lokomotive Leipzig, wie etwa Mitglieder der Ultra-Gruppierung „Banda Resoluta“. Ebenso haben sie dort Kontakt zu einem Lok-Fan, der für einen schweren Angriff im Juni 2019 auf einen senegalesischen Türsteher auf Mallorca verurteilt wurde. Auf Bildern zeigt er sich Arm in Arm mit Personen der 808er-Gruppierung.
Nicht alle, die zur 808-Gruppierung gezählt werden, trainieren dauerhaft beim IFT. Gemein ist ihnen aber der Selbstanspruch, eine Gruppe von trainierten und kampfsporterfahrenen Personen nach dem Vorbild der „Terror Crew Muldental“ zu bilden, wie aus einer internen Nachricht aus der Gründungsphase hervorgeht. Darin heißt es: „Bei 808 ging es von afnang an eine stabile junhs truppe zu machen vor der man angst und respekt hat“ (originale Schreibweise). Der Gruppierung stehen in Wurzen eigene Trainingsräume zur Verfügung, in denen sie teilweise gemeinsam mit einem erfahrenen Kampfsportler von „Banda Resoluta“ trainieren.
Welches Mobilisierungspotenzial die Gruppe mit Verbindungen in die Fanszene des 1. FC Lokomotive Leipzig sowie in umliegende Dörfer und Städte aufweist, zeigte sich beim gemeinschaftlichen Besuch des Fußballspiels zwischen dem ATSV Frisch Auf Wurzen und dem Roten Stern Leipzig im Mai 2019, bei dem sie auch ein Gruppenfoto machten. Im Nachgang des Spiels wurde von einem Teil der Gruppe der in Wurzen ansässige zivilgesellschaftliche Verein Netzwerk für Demokratische Kultur (NDK) angegriffen. Im Stadion sammelten sich zuvor etwa 50 Personen und offenbarten ihre extrem rechte Gesinnung mit Rufen wie „Ob Ost, ob West, nieder mit der roten Pest!“ oder „Wenn wir wollen, schlagen wir euch tot!“.
Die 808-Gruppierung soll sich zwar Ende 2019 bei einem Treffen in der Dresdener Straße offiziell aufgelöst haben bzw. aufgelöst worden sein. Damit sollte vermutlich verhindert werden, dass es zu polizeilichen Ermittlungen kommt, etwa wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung – zu diesem Zeitpunkt gab es bereits einige Berichte über die Gruppierung in den Medien. Seitdem treten die Personen auch nicht mehr unter diesem Namen in der Öffentlichkeit auf und verzichten auf zuvor im Stadtbild verbreitete Tags oder Graffiti. Der Freundeskreis scheint jedoch weiterhin zu bestehen und in einem privaten Gym in Wurzen gemeinsame Trainingseinheiten abzuhalten.
Die Gruppierung war im Jahr 2021 auch Thema bei einem Prozess am Landgericht Leipzig. Dabei wurde der Tod eines 17-Jährigen Wurzeners bei einer Auseinandersetzung am Himmelfahrtstag im Mai 2020 verhandelt. Angeblich soll sich der getötete Jugendliche an der Lautstärke einer Feier in der Nachbarschaft gestört haben. Über eine Messenger-Nachricht soll er dazu aufgerufen haben, „Assis“ aufzumischen. Der Richter sprach in der Urteilsverkündung im Juni 2021 davon, dass der Überfall das Resultat einer „umstrittenen Kameradschaft“ gewesen sei, die sich „Attributen wie Männlichkeit und Stärke“ verschrieben habe.10 Nach Einschätzung des Gerichts hat der Angeklagte in Notwehr gehandelt und wurde daher vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. Angesprochen auf die 808er und Chat-Nachrichten vom Tatabend, gaben sich mehrere Zeugen aus dem Freundeskreis des Getöteten ahnungslos.
Neben den vielfältigen Bezügen in die Bereiche Kampfsport und Fußball fällt bei der 808-Gruppierung eines auf: Die Mitglieder waren eine reine Männergruppe, die durch ihr Auftreten und in ihrem Selbstanspruch an Ideale einer starken, wehrhaften und kampfbereiten Männlichkeit anknüpft. Fit, trainiert und körperlich durchsetzungsfähig zu sein, scheint in der Gruppe einen zentralen Stellenwert zu besitzen, der sich u.a. in den vielen Trainingseinheiten, dem Fokus auf Kampfsport und in der Selbstbeschreibung in Chatnachrichten ausdrückt. In ihrem Erscheinungsbild und ihrer Selbstpräsentation in sozialen Netzwerken – Kampfsportposen, Besuche in Shishabars und Zurschaustellen von (sportlicher) Markenkleidung – entsprechen die 808er eher Gangster-Rappern, deren Musik sie auch hören. Traditioneller verhält sich hinsichtlich des öffentlichen Auftretens eine weitere Gruppierung in Wurzen: die „Jungen Nationalisten“.


Die Partei-Jugend: Junge Nationalisten
Die „Jungen Nationalisten“ (JN) – bis 2018 „Junge Nationaldemokraten“ – sind die Jugendorganisation der NPD. Analog zur Mutterpartei hat diese in letzter Zeit stetig an Bedeutung verloren. Trotzdem existiert in Wurzen seit einiger Zeit eine JN-Gruppierung, die eng mit JN-Mitgliedern aus Nordsachsen und Leipzig kooperiert. In den sozialen Medien tritt die JN aus dem Raum Leipzig unter der Bezeichnung „Messestadtaktivisten“ auf.
Mitglieder der JN aus Wurzen fuhren in den vergangenen Jahren etwa zu überregionalen und bundesweiten Demonstrationen wie zum 1. Mai 2021 nach Berlin und den jährlichen neonazistischen Gedenkmärschen rund um den 13. Februar in Dresden. Kleinere Demonstrationen im Zusammenhang der sogenannten Corona-Spaziergänge wurden Anfang 2021 in Grimma maßgeblich durch NPD/JN-Kader aus Mittelsachsen und aus Wurzen unterstützt. Ebenfalls gab es ab Herbst 2020 in Wurzen kleine Demonstrationen und Demonstrationsversuche im Rahmen der Proteste, die sich vorgeblich gegen die Corona-Schutzmaßnahmen richteten.
Ein Jahr später schloss sich die JN mehrfach den neonazistischen und verschwörungsideologischen Demonstrationen der sogenannten „Bürgerbewegung Leipzig 2021“. Der Organisationsgrad der relativ jungen JN-Mitglieder in Wurzen ist jedoch vergleichsweise gering und wäre ohne die Hilfe durch den JN-Bundesvorsitzenden Paul Rzehaczek aus Eilenburg vermutlich noch deutlich geringer. Angeblich finden monatliche Treffen in Leipzig statt. Neben gemeinsamen Demofahrten und Wandertagen bekundet die JN, „das deutsche Brauchtum zu vertreten“ und Sport zu betreiben. Wie viele Personen insgesamt dieser Gruppe zugerechnet werden können, ist nicht genau bekannt. Auf Gruppenbildern im Wurzener Stadtpark sowie bei den Querdenken-Protesten in Leipzig posiert die Gruppe mit etwa 8-15 Personen.
In Wurzen fällt die JN vor allem mit klassischen Propaganda-Delikten auf, wie etwa dem Verkleben von rassistischen und neonazistischen Stickern oder dem Sprühen von Parolen. Daneben veranstaltet die JN jährlich ein „Heldengedenken“ für deutsche Soldaten in Wurzen und beteiligte sich 2021 an der „Aktion schwarze Kreuze“, mit der man auf vermeintliche „Ausländerkriminalität“ aufmerksam machen wollte.
Kürzlich traten JN-Mitglieder aus Wurzen als vermeintliche Opfer in einem Propaganda-Film der NPD-Funktionäre Sebastian Schmidtke und Paul Rzehaczek auf. Obwohl die JN mit den 808ern scheinbar wenig Überschneidung in den Freundeskreisen und in ihrem politischen Wirken besitzt, kommt es vereinzelt zu gemeinsamen Aktivitäten.


Die Kommunalpolitik: Von NPD zu AfD und NFW
Neben seiner Tätigkeit als Trainer und Veranstalter im Kampfsportbereich sowie als Unternehmer versucht sich Benjamin Brinsa seit einiger Zeit auch in der Kommunalpolitik. Seit Mai 2019 sitzt er für die Anfang 2018 gegründete Wählervereinigung „Neues Forum für Wurzen“ (NFW) im Stadtrat. Dieser nicht eingetragene Verein lehnt sich mit seinem Namen zwar an die DDR-Bürgerrechtsbewegung „Neues Forum“ an, profiliert sich aber von Anfang durch scharfe Kritik an Geflüchteten und politischen Gegner*innen wie dem zivilgesellschaftlichen Verein „Netzwerk für Demokratische Kultur“ (NDK).11
Auf der Liste des NFW zur Stadtratswahl kandidierten neun Personen. Das NFW kam bei der Wahl auf knapp 11 Prozent und zog mit drei Personen (Christoph Mike Dietel, Benjamin Brinsa und Lars Vogel) in den Stadtrat ein. Die ebenfalls angetretene AfD erzielte sogar knapp 16 Prozent, was für vier Mandate gereicht hätte. Aufgrund eines Todesfalls und eines Wegzugs kurz nach der Konstituierung des Stadtrats blieben allerdings zwei Plätze unbesetzt, da die AfD insgesamt nur vier Personen aufgestellt hatte.
Das Ergebnis von insgesamt knapp 27 Prozent für die beiden extrem rechten Gruppierungen ist wenig überraschend. Schon bei der Bundestagswahl 2017 hatte die AfD in Wurzen ca. 32 Prozent der Zweitstimmen und über 35 Prozent der Erststimmen erzielt. Bei der Landtagswahl 2019 kam die AfD bei den Zweitstimmen in Wurzen wieder auf knapp 32 Prozent, ihr Direktkandidat verfehlte allerdings mit nur 29 Prozent der Erststimmen den Einzug in den Landtag. Bei der Bundestagswahl 2021 setzte sich dieser leichte Abwärtstrend fort, die AfD erzielte in Wurzen nur noch 28 Prozent der Zweitstimmen. Trotzdem sind das Werte, von denen die in Wurzen lange starke NPD nur hätte träumen können: Diese hatte bei der Stadtratswahl 2004 mit knapp zwölf Prozent ihr bestes Ergebnis erzielt. 2009 kam sie nur noch auf rund sieben Prozent. 2014 fand sich niemand mehr, der für die Partei kandidieren wollte.
Obwohl der zeitweilige Fraktionsvorsitzende Christoph Mike Dietel bei der Wahl mit Abstand die meisten Stimmen für das NFW errungen hatte, erklärte er bereits im Mai 2019 seinen Rückzug aus dem Stadtrat und von der politischen Bühne. Er führte dafür einerseits gesundheitliche Gründe an. Andererseits klagte er in einer kurz darauf wieder gelöschten Erklärung bei Facebook über die fehlende öffentliche Unterstützung aus der Bürgerschaft für das NFW und eine im Stadtrat angeblich herrschende „unverhohlene Diktatur“. Für ihn rückte im Juni 2020 David Kramer aus dem Wurzener Ortsteil Nitzschka in den Stadtrat nach. Den Fraktionsvorsitz hat seitdem Benjamin Brinsa inne.
Hinter den Kulissen sind NFW und AfD mittlerweile offenbar enger zusammengerückt. Seit Anfang 2021 veröffentlichen sie immer wieder gemeinsame Erklärungen. Zusammen verfügen NFW und AfD allerdings nur über fünf von 25 Stimmen im Stadtrat. Trotzdem konnten sich die beiden Fraktionen im September 2021 über einen Erfolg freuen. Zusammen mit der Wählervereinigung „Bürger für Wurzen“ und der CDU stimmten sie gegen die Erhöhung des städtischen Anteils für die Sanierung des Kultur- und Bürger*innenzentrums des NDK am Domplatz. Die Redebeiträge und das Abstimmungsverhalten deuten auf koordiniertes Vorgehen der vier Fraktionen hin.12
Damit wurde erstmals eine der zentralen Forderungen des „Neuen Forums“, die städtische Förderung des NDK einzustellen, mit Hilfe der konservativen Stadtratsfraktionen ansatzweise umgesetzt. Diese „Anfangserfolge bei der Begrenzung der Fördermittelfreizügigkeit“ hielt sich das NFW Anfang November 2021 ausdrücklich in einer Erklärung zu Gute, in der gleichzeitig die Auflösung des „Neuen Forums für Wurzen“ als Verein verkündet wurde. Als Grund für diese Entscheidung wird eine „gewisse Lethargie“ und ein verebbtes Vereinsleben seit dem Einzug in den Stadtrat angeführt. Das Ziel des Vereins, eine „starke Opposition“ zu bilden und die „Steuermittelverschwendung durch diverse Vereine“ offenzulegen, sei erreicht worden. Die Fraktion arbeite konstruktiv im Stadtrat mit. Das solle auch nach der Auflösung des NFW-Vereins fortgeführt werden.13
Es ist davon auszugehen, dass die Kooperation des NFW mit der AfD in Zukunft noch enger wird. Vermutlich werden sie einen gemeinsamen Kandidaten für die im Juni 2022 bevorstehende Oberbürgermeister*innen-Wahl aufstellen. Der bisherige OBM hat bereits angekündigt, nicht noch mal anzutreten. Dass Brinsa dafür selbst seinen Hut in den Ring wirft, erscheint eher unwahrscheinlich. Trotz seiner Rolle als Fraktionsvorsitzender hält er sich mit Reden im Stadtrat meist zurück. Damit profiliert sich eher Lars Vogel. Die besten Aussichten bei der Wahl hätte vermutlich ein parteiloser Kandidat aus ihrem Umfeld. Immerhin ist es dem NFW bisher weitaus besser als zuvor der NPD gelungen, Teile der lokalen Kleinunternehmerschaft anzusprechen, vor allem aus der Gastronomie und dem Handwerk.

Das zeigte sich bereits an der – ausschließlich männlichen – Kandidaten-Liste zur Stadtratswahl 2019. Neben dem damaligen Wortführer Dietel, der Theologie studiert hat und als Stadtführer tätig war, und dem Kampfsport-Unternehmer Brinsa standen darauf beispielsweise der Inhaber einer Firma für Material- und Motorenoptimierung, der Betreiber einer Kochschule und ein Rettungssanitäter. Unter den Gründern und anfänglichen Vorstandsmitgliedern des Vereins waren zwei weitere in der Stadt bekannte Gastronomen. Ein Schaukasten mit Aushängen des NFW befindet sich in der Jacobsgasse gegenüber der Shisha-Bar „Napoles“, die zum geschäftlichen Umfeld von Brinsa gehört.

Trotz dieser bürgerlichen Fassade steht das NFW aber zumindest teilweise in der Tradition der NPD. Das zeigte sich zum Beispiel bei der Besetzung von Ausschüssen und weiteren Gremien, in die das NFW den früheren NPD-Stadtrat Matthias Möbius als „sachkundigen Einwohner“ entsandte. Möbius war im Januar 2016 zusammen mit früheren Mitgliedern der „Terror
Crew Muldental“ und weiteren Personen, die in Brinsas „Imperium Fight Team“ trainierten, am Angriff von rund 250 Neonazis und Hooligans auf den Leipziger Stadtteil Connewitz beteiligt. Im Juli 2020 wurde er deshalb wegen Landfriedensbruch in einem besonders schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt. Diese Verurteilung hatte offenbar keine Folgen für seine Tätigkeit im Ausschuss für Kultur, Jugend, Schule und Sport sowie in der Gesellschafterversammlung der Wurzener Gebäude- und Wohnungsgesellschaft.

Ein anderes zu Gewalt neigendes NFW-Mitglied, der Stadtratskandidat Toni Bierstedt, hat dagegen im Oktober 2019 seinen Austritt aus dem Verein erklärt, nachdem seine Beteiligung am Angriff auf das Kultur- und Bürger*innenzentrum des NDK bekannt wurde. Bierstedt hatte am 12. Mai 2019, zwei Wochen vor der Wahl zum Stadtrat, mit anderen Personen vermummt Bierflaschen auf das NDK-Gebäude geworfen und zu dessen Schutz dienende Überwachungskameras zerstört.


Schlussbetrachtung
In Wurzen kann beispielhaft beobachtet werden, wie sich die neonazistische Szene in Teilen modernisiert und ausdifferenziert hat. Die Szene verfügt hier mittlerweile über bedeutendes Eigentum (Firmen, Immobilien) und entsprechende Einkommensquellen. Ältere Kader und Unternehmer, die selbst Teil der Bewegung sind und diese finanzieren, arbeiten mit jüngeren Generationen zusammen. Dadurch entsteht eine feindselige Normalität, die unzähligen Menschen das Leben vor Ort schwer bis unmöglich macht. Dazu möchten wir zum Abschluss einige zusammenfassenden Beobachtungen und Interpretationen darstellen.
Am Anfang des Dossiers wurde die Strategie zur Schaffung „national befreiter Zonen“ aus den 1990er Jahren skizziert. Konkret waren damit „Freiräume“ sowie „Aufmarsch- und Rückzugsgebiete“ für Neonazis gemeint. Man könnte meinen, dass die extrem rechte Szene in Wurzen genau diese Strategie verfolgt. Es gibt hier klare Kontinuitäten, die seit den 1990er Jahren erfolgte Raumnahme eröffnet(e) neu hinzukommenden Akteure und nachwachsenden Generationen viele Möglichkeitsfenster: einerseits durch ideologische Anknüpfungspunkte, anderseits durch zweckdienliche Infrastrukturen wie wirtschaftliche und politische Netzwerke oder Kampfsportstrukturen. Die älteren Akteur*innen sind teilweise nach wie vor in Wurzen aktiv und dort gesellschaftlich etabliert. Andere sind im Verlauf der Jahre hinzugekommen, haben bestehende Räume genutzt und ausgeweitet. Der umfassende Erwerb von Immobilien im Ort sowie die Politisierung und Organisierung einer gewaltaffinen Jugendszene sind deutliche Belege hierfür.
Allerdings trifft diese Interpretation einer bewusst verfolgten Strategie nur zum Teil zu. Zu heterogen sind die
extrem rechten Strukturen in Wurzen, die aus unterschiedlichen Akteur*innen und Milieus mit vielfältigen und teilweise widersprüchlichen Interessen bestehen. So verzeichneten die extrem rechten Strukturen in ihrer Gesamtheit über die Jahrzehnte hinweg zahlreiche Raumgewinne, die über die Region hinaus beispielhaft sind. Dies ist jedoch eher das Ergebnis eines Zusammenspiels unterschiedlicher Akteure und Gruppen als einer gemeinsam formulierten und zielgerichtet umgesetzten Strategie.
Dieses Zusammenspiel – ob intendiert oder zufällig – ermöglicht zahlreiche Wechselwirkungen von Politik, Business und Freizeitangeboten, die zu einer weiteren Festigung und Ausweitung der extrem rechten Szene in Wurzen beitragen. Etablierte Akteur*innen stellen Infrastrukturen bereit, bringen verschiedene Gruppen zusammen und nicht zuletzt finanzielle Ressourcen in die Szene ein. Durch die Vielzahl unterschiedlicher Angebote in diversen Lebensbereichen besteht für die heterogene Szene eine breite Anschlussfähigkeit: Politische Aufmärsche und die normalisierende Repräsentation im Stadtparlament auf ideologischer Ebene; eine Shishabar, Männlichkeitskult im Kampfsport sowie Fankultur auf milieu- und lebensstilbezogener Seite.
Besonders deutlich wird dies im geschäftlichen Bereich. Zwar gab es hier zahlreiche Betreiberwechsel und wirtschaftliche Misserfolge. Trotzdem hat sich vor Ort ein unternehmerisches Netzwerk herausgebildet, das eine gewisse Beständigkeit aufweist und inzwischen weit über den klassischen neonazistischen Versandhandel hinausgeht. Diese wirtschaftliche Etablierung trägt wiederum auch zu einer Festigung anderer Lebens- und Handlungsbereiche bei, wie etwa dem Kampfsport. Dieser übernimmt in Wurzen eine bedeutende Funktion innerhalb der extrem rechten Szene. Er trägt zur Herausbildung von Gewaltkompetenz bei und ist zentral für die Vernetzung unterschiedlicher Generationen. Als Ort der Politisierung dient er zugleich als Schnittstelle in andere gewaltaffine Milieus wie etwa der Fan- und Hooligan-Szene oder als Verbindung in überregionale extrem rechte Netzwerke.

Wie konnte es zu dieser gefährlichen Entwicklung kommen? Zum einen erfährt die Szene vor Ort seit langem nur wenig Gegenwehr. Die Bürger*innenschaft und die lokalen Medien sind mehrheitlich ignorant gegenüber der Problematik. Zum anderen agieren staatliche Sicherheitsbehörden seit vielen Jahren äußerst zurückhaltend, obgleich die Strukturen, ihr Agieren und die überregionale Wirkung kaum zu übersehen sind.
Kurz vor Fertigstellung dieses Dossiers kam es ausnahmsweise doch zu einer Aktion der Polizei in Wurzen. Beamte der „Sonderkommission Rechtsextremismus“ (Soko Rex) des LKA haben am 24. November 2021 die Wohnräume eines 32-jährigen Mannes durchsucht, der zuvor auf seinem Facebook-Profil ein Foto veröffentlicht haben soll, das ihn „auf einer Schießbahn mit einer erlaubnispflichtigen Waffe zeigt“.14 Zum Beschuldigten teilt das LKA nur mit, dass er nicht im Besitz einer waffenrechtlichen Erlaubnis sei. Es ist davon auszugehen, dass der Anlass für die Durchsuchung ein bereits im Juli auf dem Facebook-Profil von Benjamin Brinsa veröffentlichtes Foto war. Darauf posiert der NFW-Stadtrat mit einem Sturmgewehr auf einer offenbar improvisierten Schießanlage. Der Kommentar dazu lautet: „Das Ziel immer im Blick“. Die Waffe wurde bei der Durchsuchung laut LKA-Mitteilung nicht gefunden. Ob die Auswertung der anderen sichergestellten Gegenstände etwas ergeben hat, ist aktuell nicht bekannt.
Zusammengefasst konnte sich in Wurzen über die letzten drei Jahrzehnte eine heterogene Melange extrem rechter Akteure, Gruppen und Subszenen herausbilden und fest etablieren. Gerade Subkulturen wie Kampfsport und Fußball-Fanszene wirken hierbei politisierend und integrierend, insbesondere für Jüngere. Die extrem rechte Szene ist an unterschiedlichen Stellen vor Ort vernetzt und durch ihre über Wurzen hinausgehenden Verbindungen in unterschiedlichste Milieus mobilisierungsfähig, gewaltkompetent und ressourcenstark. Und: Sie ist gefährlich.


Verweise

1 Siehe https://www.chronikle.org/ort/landkreis-leip-zig/wurzen.
2 „Revolutionärer Weg konkret: Schafft befreite Zonen!“, in: Vorderste Front. Zeitschrift für politische Theorie und Strategie, Ausgabe 2, Juni 1991.
3 Vgl. Uta Döring: Angstzonen. Rechtsdominierte Orte aus medialer und lokaler Perspektive, Berlin 2007, sowie „‚National Befreite Zonen‘ – Vom Konzept zum Schlagwort“, in: Antifa-Infoblatt Nr. 94 (01/2012), online: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/%C2%Bbnational-befreite-zonen%C2%AB-%E2%80%93-vom-konzept-zum-schlagwort.
4 Siehe dazu Burkhard Schröder: Im Griff der rechten Szene. Ostdeutsche Städte in Angst, Reinbek bei Hamburg 1997, darin das Kapitel „Befreite Zonen (Wurzen)“, S. 89-162, sowie Antifaschistisches Redaktionskollektiv: Wurzen – Das Ende faschistischer Zentren, wie wir sie kennen. Entwicklung im Muldentalkreis 1991-1996, Leipzig 1996, online:
https://www.nadir.org/nadir/archiv/Antifaschis-mus/Regionen/Sachsen/wurzen_broschuere.
5 Grundsätzlich wird in diesem Text an allen relevanten Stellen gegendert. Dort wo es nicht erfolgt, liegt es daran, dass in bestimmten Strukturen nur Männer durch uns verortet werden konnten (z.B. im Gebiet Kampfsport) und dabei auch Geschlechterverhältnisse einen Erkenntnisgewinn liefern.
6 Siehe dazu Markus Deggerich und Maximilian Popp: „Rechter Haken. Neonazis unterwandern die Free-Fight-Szene“, in: Der Spiegel Nr. 15/2013, online: https://www.spiegel.de/sport/rechter-haken-a-5b041fac-0002-0001-0000-000091871172.
7 Siehe Sarah Ulrich: „Rechts der Mulde“, in: taz vom 26.08.2019, online: https://taz.de/Rechte-Szene-in-Wurzen-bei-Leipzig/!5620552.
8 Vgl. Robert Claus: Ihr Kampf. Wie Europas extreme Rechte für den Umsturz trainiert, Göttingen 2020.
9 Die „Terror Crew Muldental“ (TCM) war ab etwa 2008 im Raum Wurzen aktiv und an verschiedenen Übergriffen beteiligt. Gegen die Gruppierung wurde wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Im Juli 2011 informierte der sächsische Verfassungsschutz in einer Veröffentlichung „versehentlich“ über dieses Verfahren. Die Ermittlungen gegen die Neonazi-Kameradschaft wurden 2015 ohne Ergebnis eingestellt.
10 „Anklage wegen Totschlags: Wurzener verlässt Gericht als freier Mann“, LVZ vom 29.06.2021, online:
https://www.lvz.de/Region/Wurzen/Angeklagter-aus-Wurzen-verlaesst-Gericht-als-freier-Mann.
11 Siehe zum NFW auch die Artikel „Neues Forum, alter Inhalt“ sowie „Rechts der Mulde“ in der chronik.LE-Broschüre „Rechtsaußen in der Kommunalpolitik“ (April 2020), online unter: https://www.chronikle.org/files/Rechtsau%C3%9Fen%20in%20der%20Kommualpolitik_0.pdf.
12 Vgl. „Wurzener Land Nachrichten“ vom 22.09.2021: „Wurzener Stadträte lassen NDK im Stich“ , online:
https://wurzener-land-nachrichten.de/?p=2144, Statement des NDK vom 27.09.2021: „Entscheidung des Wurzener Stadtrates wirft mehr als eine Frage auf “, online: https://www.ndk-wurzen.de/aktuelles/entscheidung-des-wurzener-stadtrates-
wirft-mehr-als-eine-frage-auf
.
13 Vgl. Facebook-Seite NFW vom 06.11.2021 und LVZ vom 26.11.2021: „Ende einer kurzen Ära: Das Neue Forum für Wurzen löst sich auf “, online: https://www.lvz.de/Region/Wurzen/Ende-einer-kurzen-Aera-Das-Neue-Forum-fuer-Wurzen-loest-sich-auf.
14 Pressemitteilung des LKA Sachsen vom 24.11.2021: https://www.medienservice.sachsen.de/medien/news/1032757 und LVZ vom 24.11.2021: https://www.lvz.de/Region/Wurzen/Wurzener-zeigt-sich-auf-Facebook-mit-Waffe-Soko-Rex-durchsucht-Wohnung

Neonazis und Wurzner*innen protestieren gegen Antifa-Demo im September 2017
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Zuletzt aktualisiert am 08.02.2022