17.02.2011
„Die BRD führt uns unaufhaltsam in den Volkstod“, wurde unlängst auf einer Neonazi-Website aus dem Leipziger Umland schwadroniert. „Der finale Todesstoß wird mit der Überfremdung unserer Heimat mittels herangekarrter Migranten gesetzt.“ Solche apokalyptischen Äußerungen sind Werbung für nationalsozialistische Ideologie. Schon 1984 rechnete der neonazistische „Schutzbund für das deutsche Volk“ (SDV) vor, in 300 Jahren werde es nur noch 6400 Deutsche geben. Der Gründung des SDV ging 1981 das so genannte „Heidelberger Manifest“ voraus, in dem eine Hand voll deutscher Professoren per Unterschrift ihre Besorgnis über eine angebliche „Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen von Ausländern und ihren Familien, die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums“ ausdrückten.
Den Ton in dieser Frage geben heute jedoch nicht Neonazis an. Deren Sorge um das „deutsche Volk“ teilen aber beispielsweise Politiker wie Thilo Sarrazin, der kein Neonazi, sondern SPD-Mitglied und Vorstand der Deutschen Bank ist. Seine Variante der Volkstodthese kommt mit Hilfe unseriöser statistischer Prognosen zu einem noch fataleren Rechenergebnis: „Die deutsche Gesellschaft scheint mir gegenwärtig ziemlich gefährdet“, denn „in 80 Jahren gibt es keine Deutschen mehr“ (Westfälische Rundschau, 29.05.2010).
Debatten um die Bevölkerungsentwicklung sind in der Bundesrepublik seit Beginn der 1980er Jahre ein präsentes Motiv der medialen Berichterstattung, zu dem sich alle politischen Lager bei verschiedensten Anlässen positionieren: Ist die Rente sicher, wenn die Menschen immer älter werden und ihre Zahl die der arbeitenden Bevölkerung übersteigt? Kann sich der Staat unter diesen Bedingungen ein aufwändiges Sozialsystem noch leisten? Brauchen wir angesichts solcher Prognosen mehr Jobs, beispielsweise im Niedriglohnbereich? Oder einfach weniger staatliche Regulation? Und mehr oder weniger Zuwanderung?
Das mediale Alarmgeschrei hat eine lange Geschichte voller waghalsiger Statements, die jeder Wissenschaftlichkeit spotten: 1965 überraschte das Buch „Too Many Americans“ die US-amerikanische Öffentlichkeit mit folgender Prognose: „Um die Existenz von weiteren 180 Millionen Menschen zu sichern, die es in 44 Jahren […] geben wird, müßten in diesem Land Veränderungen der Lebensumstände in Gang gesetzt werden, die so radikal wie alle Veränderungen sind, die sich seit Kolumbus ereignet haben.“ In Deutschland machte man sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg Sorgen um die niedrige Geburtenrate im Vergleich zum „Erzfeind“ Frankreich. Die „Wehrfähigkeit“ der angeblich „überalterten Deutschen“ schien in Gefahr. Bei den Nazis populär wurden in den 1930er Jahren die Thesen des deutschen Bevölkerungswissenschaftlers Friedrich Burgdörfer, der von einem „Volk ohne Jugend“ sprach, dem durch Zuzug „volksfremder Elemente“ „Unterwanderung“ und „auf Dauer die Umvolkung“ drohe. 2010 schreibt Thilo Sarrazin in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“: „Deutschland wird nicht mit einem Knall sterben. Es vergeht still mit den Deutschen und der demografisch bedingten Auszehrung ihres intellektuelles Potenzials“.
Tatsächlich gab es 1965 etwa 160 Millionen US-Amerikaner*innen, heute sind es etwas über 300 Millionen. Die Prognose, die fast ein halbes Jahrhundert überbrücken sollte, lag also mit satten 40 Millionen daneben. Und die Prognostiker*innen gingen ebenso fehl in ihrer Annahme, eine vergrößerte Bevölkerung könne nicht „existieren“. Das beruht auf der kurzsichtigen Überlegung, bei steigender Bevölkerung teile sich alles Vorhandene durch immer mehr Menschen – es bliebe für die Einzelne also immer weniger übrig. Nicht bedacht wird dabei, dass sich eine Gesellschaft binnen eines halben Jahrhunderts so stark verändern kann, dass die Lebensumstände der Bevölkerung wirklich radikal andere geworden sind und deshalb das befürchtete „Existenzproblem“ gar nicht aufwerfen.
Auch die deutsche „Bevölkerungswissenschaft“, die seit mehr als hundert Jahren „Schrumpfung“, „Bevölkerungsrückgang“ oder gar das Aussterben der „Deutschen“ prognostizieren, lag bislang meilenweit daneben. Mit mehr als 82 Millionen ist die Einwohnerzahl der BRD Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts auf ihrem Höchststand. In diese Zahl geht aber noch ein weiterer weltweiter Trend ein: Die Sterberate sinkt, das heißt, die durchschnittliche Lebensdauer steigt. Dass die Bevölkerung „ausstirbt“ kann man schon wegen der immer größeren Lebensspanne aller Einzelnen nicht behaupten. Wie groß nun die Bevölkerung in einigen Jahrzehnten sein könnte, lässt sich durch die Entwicklung von Wachstumsrate und Sterberate mit statistischen Verfahren wenn überhaupt nur grob abschätzen. Unter welchen Lebensumständen eine künftige Bevölkerung leben wird, kann man aber beim besten Willen nicht vorhersagen. Und deswegen ist völlig offen, ob ein Ansteigen oder Absinken der Bevölkerungszahl „gute“ oder „schlechte“ Folgen für die jeweiligen Bewohner*innen haben wird.
Die Fakten klingen also überhaupt nicht nach dem, was schillernde Begriffe wie „demografische Katastrophe“ suggerieren. Dennoch ist dies seit den 1980er Jahren ein häufiges Thema der deutschsprachigen Massenmedien geworden. Als geradezu existentielle Frage ist die Demografie als Schlagzeile zur gleichen Zeit aufgekommen, in der die Öffentlichkeit über die Gefahr eines Atomkriegs diskutiert hat, und sie ist sogar ähnlich dramatisch geschildert worden: Zunächst als unheilvolle „Bevölkerungsexplosion“ der Länder der so genannten „Dritten Welt“ und, besonders um 1990, in den Auswirkungen auf die Industriestaaten durch verstärkte Migrationsströme. Danach hat das Vorzeichen gewechselt, hin zur „Implosion der Bevölkerung“. Im Mittelpunkt steht seither folgendes Szenario in der Bundesrepublik: Schrumpfende Einwohnerzahlen in entindustrialisierten Landstrichen der früheren DDR, die „umgedrehte Bevölkerungspyramide“, Angst vor dem „Fachkräftemangel“ und so weiter.
Dabei fällt erstens auf: Die Verknüpfung der Debatten um Demografie und Einwanderung vollzieht sich in der Regel aus Perspektive der deutschen „Eingeborenen“. Betont wird die Auswirkung von Migration auf Deutschland und die „angestammte“ Bevölkerung. Die Perspektive der Migrant*innen selbst spielt äußerst selten eine Rolle oder wird nur unter negativen Aspekten thematisiert.
Zweitens fällt auf: Wenn in den Medien eine Bevölkerungszahl angeführt wird, scheint eine bestimmte Vorstellung mitzuschwingen, welche Zahl und welche Verteilung „normal“ ist: Wie viele Junge und Rentner*innen, Arbeitende und Arbeitslose, Studierende und Azubis, „Deutsche“ und „Ausländer*innen“ soll es geben? Ein solches „Normalmaß“ existiert aber nicht, das zeigte die dynamische Entwicklung bisher aller Gesellschaften, in denen sich niemals irgendein „natürliches Gleichgewicht“ eingestellt hat.
Für „normal“ wird kurzerhand das gehalten, was für die eigene Perspektive von Vorteil ist: Auf dem Höhepunkt der rassistischen Diskussion über Zuwanderung – die Anfang der 1990er Jahre in etliche Brandanschläge auf Heime für Asylbewerber*innen gemündet ist – wurde das Asylrecht so gut wie abgeschafft. Nachdem durch Jürgen Rüttgers folgerichtige Parole „Kinder statt Inder“ im Jahr 2000 der „Fachkräftemangel“ zur Debatte stand, wurde plötzlich überlegt, offene Stellen doch gezielt durch qualifizierte Migrant*innen zu besetzen. Seither wird Einwanderung verstärkt unter den Aspekten von Nützlichkeit thematisiert.
Die hiesige Diskussion um Demografie geht mit Appellen an die staatliche Politik einher, die unter anderem über Arbeits-, Sozial- und Asylpolitik auf die Bevölkerung und ihre Struktur zugreifen kann. Hinter den provokantan antifeministischen Äußerungen der Fernsehmoderatorin Eva Herman seit 2006 stand auch die Forderung, über gezielte Familienpolitik – nämlich Anreize, mehr Kinder zu zeugen – die Bevölkerungsentwicklung zu regulieren. In die gleiche Kerbe schlug 2005 der FDP-Politiker Daniel Bahr mit seiner Feststellung: „In Deutschland kriegen die Falschen die Kinder“, die er mit Vorschlägen zur Kinderförderung in Akademikerfamilien verband. Völlig übergangen wird dabei, dass es Frauen geben mag, die sich eine mögliche Mutterschaft nicht vom Staat antragen lassen wollen, weil sie darüber selbst entscheiden können und das Kinderkriegen eine Privatangelegenheit ist.
Aus der eigentlich nur statistischen Feststellung über die Zusammensetzung oder mögliche Entwicklung der Bevölkerung wird bei diesen Debatten etwas völlig anderes: Die Verbindung von Demografie mit anderen Thematiken mündet in der öffentlichen Debatte zunehmend in einer Problematisierung von Bevölkerungsgruppen unter entmenschlichenden Nützlichkeitsaspekten. Die Sorge, aufgrund sinkender Arbeitnehmerzahlen beispielsweise das Rentensystem auf Dauer nicht mehr finanzieren zu können, führt zu einem anwachsenden Generationenkonflikt „Jung“ gegen „Alt“, der weitgehend von den Ansprüchen der arbeitenden Mehrheit bestimmt wird. Die Rentenlast nicht tragen zu wollen kann in den Augen dieser Mehrheit bedeuten, nach dem Prinzip „Wir oder die“ alten Menschen ein „sozialverträgliches Frühableben“ – so lautete das „Unwort des Jahres 1998“ – zu wünschen. Sofern der Staat ernsthafte Verwaltungsmaßnahmen einleitet, hat er sich die Ansprüche der Mehrheit zueigen gemacht und sich selbstverständlich für das „Wir“ entschieden: Das Rentenalter wird herauf- und die monatliche Zahlung heruntergesetzt. Rentner*innen erfahren so, dass sie man sie als teure Mitesser*innen und unnütze Kostenstellen wahrnimmt und abkanzelt.
Die Konfliktlinien in der Gesellschaft verlaufen nicht nur zwischen „Jung und Alt“, „Oben und Unten“, sondern verstärkt auch anhand ethnisch-völkischer Zuordnungen. Wer dabei nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehört, hat Pech. Durch die Selbstwahrnehmung der Mehrheit als einheitliches „Volk“ – in Sarrazins Buch heißt es zum Beispiel: „Die jeweilige kulturelle Eigenart der Völker ist es wert, bewahrt zu werden. Dänen sollen auch in 100 Jahren unter Dänen, Deutsche als Deutsche unter Deutschen leben können“ – haben am meisten die Pech, die nicht als „Deutsche“ anerkannt sind und denen folglich das Recht bestritten wird, „legitime“ Ansprüche zu stellen. Der SPIEGEL titelte beispielsweise schon im März 1975 mit der suggestiven Frage „Sterben die Deutschen aus?“ Im Heft heißt es: „Nirgendwo sonst auf der Welt werden so wenig Kinder geboren wie in der Bundesrepublik. Nur Gastarbeiter sorgen noch für einen Baby-Überschuß. Die Deutschen, Volk ohne Nachwuchs?“ Wörtlich wird im Text vor einem künftigen „Raum ohne junges Volk“ gewarnt. Die große Befürchtung: „Gastarbeiter“ und deren Kinder füllen diesen Raum.
Trotz der jahrzehntelangen Mediendebatte zur „demografischen Katastrophe“ beklagte der Bevölkerungswissenschaftler Josef Schmid (Universität Bamberg) 2006 in einem Interview für eine neurechte Zeitschrift, das Thema käme wegen eines „gigantischen Verdrängungstheaters“ schlichtweg nicht zur Sprache. Wenn er es zur Sprache bringt, möchte er nicht nur sagen, dass „die Deutschen“ keine weiteren sechs Generationen überleben würden – sondern auch, dass „Ausländer*innen“ das eigentliche Übel seien: „Die Dynamik liegt stets bei den Gruppen, die über ihre Kinder ein vitales Interesse an der Zukunft haben, niemals jedoch bei einem alternden Volk“. Schmid erklärt auch, warum das so furchtbar sei: „Die Sorge bleibt das Ausmaß schwindender Jugend… Sie ist Humankapital, muß im Wettbewerb mit viel jüngeren Völkern bestehen.“ Hier bestärken sich nicht nur Zuwanderungs- und Demografiediskurs durch die eindeutig rassistischen Zuschreibungen – es wurde auch schlicht das Thema gewechselt. Plötzlich geht es nicht mehr um die Zahl der EinwohnerInnen – sondern die Durchsetzungsfähigkeit der „Deutschen“ gegen alle anderen.
Was hier also ständig als „die Deutschen“ bezeichnet wird, betrifft nicht etwa die Bevölkerung dieses Landes, die in ihrer sozialen Struktur, Herkunft und Interessen sehr heterogen ist. Vielmehr wird von einem homogenen, einheitlichen „Volk“ gesprochen. Das ist nicht nur eine heikle Konstruktion, mit der wir es in der Wirklichkeit nie zu tun haben, sondern geht direkt auf ein völkisches Weltbild zurück, in dem die Reinheit der „Abstammung“ im Mittelpunkt steht. Migrant*innen gehören in den Augen der Mehrheit freilich nicht zum „Volk“ – sie sind und bleiben fremd.
Nur wenn man selbst so denkt, kann man behaupten, „die Deutschen“ würden „aussterben“. Da weder „Volk“ noch Bevölkerung biologische Wesen sind oder die Eigenschaften von Organismen besitzen, sondern nur die soziale Zusammenfassung vieler verschiedener Einzelner sind, kann ein „Volk“ auch nicht „sterben“. Mehr noch: Jede Zusammensetzung der Bevölkerung ist letztlich Resultat früherer Migrationsströme. Das „deutsche Blut“, das man im „Volk“ reinhalten und durch ausreichende Fortpflanzung reproduzieren müsse, ist eine Halluzination von Nationalist*innen. Wenn heute Neonazis vom „Volkstod“ sprechen, sind sie daher ganz auf der Höhe ideologischer Irrtümer – und sie mischen mit in einer Debatte, aus deren Repertoire rassistische und nationalistische Statements nicht mehr wegzudenken sind. Die Gefahr ist das verächtliche Menschenbild, das hinter der Vorstellung von „Volk“ und dessen drohendem „Tod“ steckt: Menschen werden wie eine Tierpopulation behandelt, deren Homogenität und „Lebensfähigkeit“ gesichert werden sollen. Im Ernstfall läuft dies auf eine Zurückstufung und Gewalt gegen all jene hinaus, die individuelle Ansprüche entwickeln oder Bedürfnisse artikulieren, die dem „Wohl des Volkes“ scheinbar entgegenstehen – oder die schlicht nicht als „Humankapital“ taugen und die es nicht als ihre Aufgabe sehen, sich im „Wettbewerb“ gegen andere „Völker“ durchzusetzen.
Der Text wurde erstveröffentlicht in der Broschüre "Leipziger Zustände 2010".
Zuletzt aktualisiert am 05.02.2022