30.03.2011
„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so eine einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“ Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche 1940/41
Die Grenzen sind unsichtbar geworden. In dem Maße, in dem die Europäische Union seit Jahren ihre Außengrenzen mit immer militärischeren und technischen Mitteln bis zur nahezu vollständigen Undurchdringlichkeit aufgerüstet hat, haben sich die innereuropäischen Grenzen aufgeweicht und ihren Charakter verändert. Sie trennen nicht mehr Territorien, sondern vor allem Menschen voneinander. Sie verlaufen nicht mehr (nur) an der Staatsgrenze, sondern an Bahnhöfen, in Innenstädten, auf Ämtern und Behörden. Die Grenze ist überall, wo Menschen befürchten müssen, nach Papieren gefragt zu werden. Für schätzungsweise 4.000 bis 10.000 Leipziger*innen ist die beständige Angst davor, entdeckt zu werden, bittere Realität. Eine Realität, die auch ihre Menschenrechte massiv beschneidet. Behördliche Statistiken über die Leipziger Bevölkerung gehen davon aus, dass ca. 10 Prozent der in Leipzig lebenden Menschen einen Migrationshintergrund besitzen. Hinter dieser Zahl verschwinden Migrant*innen, die notwendig ungezählt bleiben, da sie gezwungen sind, sich jeder offiziellen Registrierung ihres Daseins zu entziehen. Weil sie keinen deutschen Pass besitzen und auch keine sonstigen Papiere, die ihnen ein Aufenthaltsrecht gewähren, bleiben sie als so genannte „illegale Einwanderer*innen“ vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Manche sind als Student*innen gekommen und nach Ablauf ihres Visums geblieben, einige wurden in ihren Herkunftsländern verfolgt, andere wurden von bereits hier lebenden Familienangehörigen nachgeholt. Viele leben seit mehreren Jahren in Deutschland und können oder wollen nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren, andere sind nur auf der Durchreise oder pendeln.
Zwei Aspekte treffen allerdings auf alle zu: Sie wollen selbst ihr Leben und ihren Aufenthaltsort bestimmen und sie werden dafür kriminalisiert. Als „Papierlose“ ist es ihnen aber nicht nur unmöglich ein offizielles Arbeitsverhältnis einzugehen. Neben dem Ausschluss von ganz alltäglichen Vorgängen wie dem Besuch von Bildungseinrichtungen, der Eröffnung eines Bankkontos, dem Abschluss von Handy-Verträgen oder der Anmietung einer Wohnung bleiben ihnen durch die ständig drohende Gefahr, inhaftiert und abgeschoben zu werden, auch grundlegende Menschenrechte verwehrt. Dies verschärft im Besonderen die gesundheitliche Situation vieler Migrant*innen.
Juristisch werden Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus dem Asylbewerberleistungsgesetz zugeordnet und haben damit Anspruch auf medizinische Versorgung bei akuten oder schmerzhaften Erkrankungen. Die im Gesetz festgeschriebene Minimalbehandlung ist jedoch nicht nur eine völlig unzureichende Gesundheitsversorgung, sie verstößt gegen das Menschenrecht auf Gesundheit. Dieses im Sozialpakt der Vereinten Nationen festgeschriebene Recht sieht einen gleichberechtigten Zugang aller Menschen zu medizinischer Versorgung vor.
Um überhaupt ihren Anspruch auf medizinische Versorgung geltend machen zu können, müssen sich Menschen ohne Papiere in Deutschland an das Sozialamt wenden. Wie alle öffentlichen Stellen ist das Sozialamt aber gesetzlich zur Meldung den antragsstellenden Person an die Ausländerbehörde verpflichtet. Da die Ausländerbehörde ihr bekannt gewordene Papierlose auf schnellstem Weg abschiebt, können diese die ihnen gewährte medizinische Minimalversorgung also nur um den Preis ihrer eigenen Abschiebung wahrnehmen. Folglich gehen die Betroffenen wenn überhaupt erst dann zum Arzt, wenn ihre Krankheit schlimmer ist als die drohende Abschiebung. Das Recht auf Gesundheit wird durch diese Meldepflicht der Sozialämter faktisch außer Kraft gesetzt.
Eine Gruppe engagierter Leipziger*innen hat sich Anfang 2009 zusammengefunden, um diesen Missständen nicht länger tatenlos zuzusehen. Im Rahmen zweier Schwerpunkte ihrer Tätigkeit arbeitet sie daran, diesem institutionellen Rassismus des Gesundheitswesens etwas entgegen zu setzen. Dafür leisten die ehrenamtlichen Helfer*innen einerseits praktische Hilfe bei der Vermittlung von anonymen medizinischen Behandlungen für Flüchtlinge und Migrant*innen ohne Papiere. Als politische Initiative treten sie darüber hinaus für eine Gestaltung des Gesundheits- und Ausländerrechts ein, dass die Menschenrechte ernst nimmt und ihre Einhaltung für alle in Deutschland Lebenden gewährt.
Im ersten Jahr des Bestehens konnten durch die Arbeit des Medinetz Leipzig 12 Patient*innen behandelt werden. Eine noch recht geringe Zahl, die mit dem Bekanntheitsgrad der Initiative und dem Aufbau von Vertrauen sicherlich steigen wird. Da die Aktivist*innen die Patient*innen nicht selbst behandeln, muss ein umfangreiches Netzwerk aus Spezialist*innen und Einrichtungen der jeweiligen medizinischen Fachbereiche aufgebaut und betreut werden, deren Teilnehmer*innen bereit sind, illegalisierte Patient*innen anonym und möglichst kostengünstig zu behandeln. Bei komplizierten Operationen bedeutet dies beispielsweise immer wieder aufs Neue aufwändige Einzelverhandlungen mit Krankenhäusern und entsprechenden Fachärzt*innen.
Erfreulich ist jedoch, dass viele Ärzt*innen und Krankenhäuser bereitwillig helfen. Juristisch gehen diese dabei übrigens kein Risiko ein – als Beihilfe zum illegalen Aufenthalt wird die medizinische Behandlung papierloser Menschen in Deutschland nicht gewertet. Im Gegenteil, sie fällt unter die „ärztliche Schweigepflicht“. Der „verlängerte Geheimnisschutz“ gilt darüber hinaus auch für das Verwaltungspersonal von Krankenhäusern und Sozialämtern, die solche Behandlungen abrechnen dürfen, personenbezogene Daten jedoch nicht an die Ausländerbehörde weiterleiten dürfen.
Einem Sprecher des Medinetz zufolge steht jedoch zu befürchten, dass sich noch nicht alle Sozialämter an diese erst im Oktober 2009 geänderte Rechtslage halten. Das Medinetz Leipzig ist Teil eines bundesweites Netzwerkes mit Gruppen in anderen Städten, die so neben der konkreten lokalen Hilfe vor allem ihre politischen Forderungen koordinieren. Eine davon ist die Abschaffung der Meldepflicht der Sozialämter an die Ausländerbehörde im Falle der Antragsstellung auf Übernahme von Behandlungskosten durch Illegalisierte – eine menschenfeindliche Verwaltungspraxis, die nach Angaben der Medinetze einmalig in Europa ist. Der „verlängerte Geheimnisschutz“ gilt nämlich erst im Nachgang einer Behandlung. Er kommt aber nicht zum Tragen, wenn der Patient selbst seine Daten im Zuge eines Antrags auf Kostenübernahme dem Sozialamt offenbart.
Bis zur Abschaffung dieser Praxis bietet sich als lokale Insellösung aber auch die Einführung eines so genannten „anonymen Krankenscheins“ an. Der anonyme Krankenschein ist ein Instrument, die Meldepflicht der Sozialämter bei der Kostenübernahme für die Behandlung von Migrant*innen ohne Papiere auszuhebeln. Über eine kommunale, öffentliche Lotsenstelle könnten Krankendaten von den behandelnden Ärzt*innen anonymisiert zu den Sozialämtern weitergeleitet werden. So könnte die gesetzlich garantierte Kostenübernahme im Einklang mit dem Menschenrecht auf Gesundheit gewahrt werden. Die grundsätzliche Forderung jedoch bleibt: Ein Gesundheitssystem muss offen und zugänglich für alle sein. Es darf keine staatliche Hinderung geben, die dazu führt, dass einigen Menschen faktisch das Recht auf medizinische Versorgung verwehrt wird. Das Medinetz Leipzig erklärt: „Unsere Arbeit ist keine Lösung, sondern ein notwendiges Provisorium in einer inakzeptablen Situation.“
Erstveröffentlicht in der Broschüre "Leipziger Zustände 2010"
Zuletzt aktualisiert am 05.02.2022