Sie kamen nicht durch! So "lief" der Nazi-Aufmarsch am 17. Oktober 2009

09.10.2010

Am 17. Oktober 2009 versammelten sich ab Mittag rund 1350 Neonazis am S-Bahnhof Sellerhausen, um unter dem Motto "Recht auf Zukunft" durch den Leipziger Osten und die Innenstadt zum Hauptbahnhof zu marschieren. Doch dazu kam es nicht, die Versammlung wurde gegen 16 Uhr aufgrund von Angriffen einiger ungeduldiger Demonstrationsteilnehmer auf Polizist*innen aufgelöst.

Der Aufruf: völkisch und neonazistisch

Die größtenteils im Stil der "Autonomen Nationalisten" gekleideten Neonazis waren einem Aufruf von "Nationalen Sozialisten aus Leipzig" gefolgt, der schon seit einem halben Jahr im Umlauf war. Für die massive bundesweite Mobilisierungskampagne hatten sie eine eigene Website eingerichtet, es wurden Mobilisierungsvideos und Werbebanner erstellt sowie massenweise Aufkleber und Plakate zur Bewerbung des Aufmarsches verklebt. Angemeldet hatte diesen der Leipziger Neonazi-Kader Tommy Naumann - Vorsitzender der sächsischen NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten", gescheiterter Stadtratskandidat und Führungskader der mittlerweile ganz auf NPD-Linie eingeschwenkten "Freien Kräfte Leipzig" (FKL).

Der in Untergangsphantasien ("Volkstod") und völkischen Vorstellungen schwelgende, explizit neonazistische Aufruf unter dem Titel "Recht auf Zukunft" fand bundesweite eine Reihe von Unterstützern. Recht spät warb auch die NPD Sachsen auf ihrer Homepage für den geplanten Aufmarsch. Zuvor hatte bereits der Bundesvorstand der "Jungen Nationaldemokraten" dafür mobilisiert.

Die Teilnehmer: Freie Kräfte, Autonome Nationalisten und NPD-Kader

Die zumeist jungen Teilnehmer*innen, die aus der ganzen Bundesrepublik angereist waren, stammten hauptsächlich aus dem Spektrum der "Freien Kräfte" und der so genannten "Autonomen Nationalisten". Aber auch etliche bekannte Kader nahmen teil, so der Delitzscher NPD-Stadtrat Maik Scheffler, Ininiator der "Freies Netz"-Struktur und mittlerweile Vorsitzender des NPD-Kreisverbandes Nordsachsen, der JN-Bundesvorsitzende Michael Schäfer aus Halle und der Kölner Neonazi Axel Reitz vom einstigen "Kampfbund Deutscher Sozialisten" sowie Leipziger FKL/JN-Aktivisten wie Istvan Repaczki und Christian Trosse. Laut einem Bericht des Neonaziportals "Altermedia" sollen zumindest anfangs auch Abgeordnete der NPD-Landtagsfraktion anwesend gewesen sein. Einige Teilnehmer kamen auch aus Tschechien, darunter mit Patrik Vondrak ein langjähriger Aktivist des mittlerweile verbotenen "Narodni odpor" und Vorsitzender der "Dělnická strana" in Prag.

Angriff auf die Polizei - 1349 Ermittlungsverfahren

Die Kontrolle der ankommenden Neonazis zog sich über mehrere Stunden hin. Aufgrund der hohen Teilnehmerzahl mussten weitere Ordner gestellt werden, was ebenfalls für Verzögerung sorgte. Anmelder Tommy Naumann ließ verärgert verlauten: "Ich lasse mich hier doch nicht verarschen." Nach eigenen Angaben kündigte er gegenüber dem Einsatzleiter der Polizei an, die Veranstaltung auflösen zu wollen, wenn sie nicht sofort losmarschieren könnten.
Frustriert durch die lange Wartezeit bewarfen schließlich einige Neonazis die Polizei mit Flaschen, Steinen, Feuerwerkskörpern und Stangen. Dadurch wurden mehrere Polizeibeamte verletzt, darunter auch der Leipziger Polizeipräsident Horst Wawrzynski. Dieser verfügte die Auflösung der Versammlung und ließ die aufgebrachten Neonazis mit Hilfe von schwerer Technik wie Wasserwerfern zurückdrängen.

So endete der Aufmarsch, noch bevor er begonnen hatte. Um Straftaten zu ahnden und eine unkontrollierte Abreise der Neonazis zu verhindern, wurden sämtliche Teilnehmer einer Identitätsfeststellung unterzogen. Diese Maßnahme zog sich über mehrere Stunden hin, so dass einige Neonazis bis fast 22 Uhr in Sellerhausen verblieben. Nach Angaben der Polizei wurden gegen alle 1349 Teilnehmer Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch eingeleitet. Dazu wurde eine "Soko Neonazi" eingerichtet, die unter anderem durch Spezialisten für organisierte Kriminalität und Hooligan-Experten unterstützt wurde. Inzwischen wurden alle Verfahren wieder eingestellt.

Transparente und Parolen: Für den "Nationalen Sozialismus", gegen Demokratie und BRD

Obwohl die Neonazis vor dem Abbruch der Veranstaltung mehrere Stunden umringt von Polizeiabsperrungen ausharren mussten, nahmen sie Aufstellung in Blöcken und mit Transparenten. Während der Wartezeit skandierten sie Parolen wie "Nationaler Sozialismus - jetzt, jetzt, jetzt", "Antifa-Hurensöhne", "Hier marschiert der nationale Widerstand" und "Die Straße frei der deutschen Jugend". In ersten Reden kündigten die Neonazis an, "Totengräber der Demokratie" sein zu wollen. JN-Chef Michael Schäfer rief in Anspielung auf das seiner Meinung nach von Leipzig ausgegangene Ende der DDR: "Warum soll heute nicht der Anfang vom Ende des Projektes BRD sein?"

Die ersten Reihen wurden von einschlägig bekannten Leipziger Neonazis und Protagonisten des „Freien Netzes“ angeführt. Aktivisten des "Freien Netzes" stellten auch einen Großteil der Ordner. Aus dieser Gruppe heraus wurden Fotograf*innen verschiedener Medien bedrängt und bedroht. „Wenn du hier Fotos von uns machst, schlagen wir dich zusammen“, kündigte ein Neonazi an. "Wenn das hier geräumt wird, bist du der erste, der umfällt."

Protest: Rund 3.000 Gegendemonstrant*innen blockieren

An verschiedenen Kundgebungen gegen den Neonazi-Aufzug haben sich nach Medienangaben etwa dreitausend Gegendemonstrant*innen beteiligt. Unter dem Motto "Bitte nehmen Sie Platz!" hatte dazu unter anderem ein breites Leipziger Bündnis aufgerufen. Obgleich die Polizei teilweise Blockaden räumte, blieb es dennoch weitestgehend friedlich. Allerdings hätte der Tag auch anders ausgehen können. Der Angriff auf die Polizisten erfolgte zu einem Zeitpunkt, als sich diese gerade daran machen wollten, die Ansammlung von Protestierenden vor der S-Bahnhof zu räumen. Offenbar hatten die Neonazis die Aufforderung zur Auflösung der Versammlung, auf die die Nazi-Gegner*innen mit ohrenbetäubenden Lärm reagierten, auf sich bezogen und waren daher zum Angriff übergegangen.

Nach dem "Kessel von Leipzig": Aufrufe zu Rache und Vergeltung, Kritik an Organisatoren und ANs

Auf einschlägigen neonazistischen Internetseiten wurden die Ereignisse vom 17.10. im Nachhinein als großer Misserfolg wahrgenommen. In typisch größenwahnsinniger Anmaßung wird in Anlehnung an Stalingrad sogar vom "Kessel von Leipzig" gesprochen. Vielerorts finden sich Aufrufe zu Rache- und Vergeltungsaktionen. Statt lange im Voraus angekündigten Aufmärschen soll es mehr kleinere, überraschendere und auch gewalttätige Aktionen geben. Im Laufe des Jahres wurde diese Strategie umgesetzt: Kleine "spontane" Aufmärsche fanden in Chemnitz, Leipzig, Borna und vermutlich auch Eilenburg statt.

Der Ärger über den misslungenen Großaufmarsch richtet sich aber nicht nur gegen Polizei, Staat und Gegendemonstrant*innen. Kritisiert werden auch die Leiziger Organisatoren, die gegenüber der Polizei nicht konsequent genug aufgetreten seien.

Heftig diskutiert wird zudem über die sogenannten "Autonomen Nationalisten" (AN), die als Verursacher der Angriffe auf Polizeibeamte und somit Auslöser des vorzeitigen Endes angesehen werden. Die Leipziger "Nationalen Sozialisten" hatten sich vor dem Aufmarsch in eigenen Auflagen explizit gegen die Beteiligung von "extremen subkulturellen Erscheinungsformen" und das Tragen von Sonnenbrillen ausgesprochen. Man sei "keine billige Kopie der Antifa". Trotzdem dominierten schwarz gekleidete Anhänger der „Autonomen Nationalisten“. Selbst die Leipziger Neonazis zeigten sich größtenteils im bekannten Black-Block-Style. Der NPD-Blog weist darauf hin, dass auch das auf den Mobilisierungsplakaten abgebildete Fahnen-Logo "Nationale und sozialistische Aktion" dem der "Antifaschistischen Aktion" nachempfunden sei.

Hier zwei Videos der "Infothek Dessau", die den verhinderten Aufmarsch der Neonazis dokumentieren:

Zuletzt aktualisiert am 05.02.2022