17.06.2011
Neonazis terrorisieren Kleinstädte. Die Landesregierung gängelt derweil demokratische Initiativen. Der Streit um die Extremismusklausel lenkt von der Alltagsmacht ab, die Neonazis vielerorts erobert haben.
Von Michael Kraske
Unweit der schäbigen Gaststätte, in der die NPD ihren Jahresauftakt in Limbach-Oberfrohna feierte, hatte Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) einen denkwürdigen Auftritt. Der Minister entstieg seiner Limousine und ließ sich von Bürgermeister Lothar Hohlfeld die Hand schütteln. Im Kino zeigte die Stadt, aufgeschreckt durch negative Presse, den Film „Sophie Scholl“. Draußen führte der Bürgermeister den Minister zu einem Plakat, auf dem stand: „Wir wollen keine Rechtsextremisten in unserer schönen Stadt“. Bürger, zu denen der Minister hätte sprechen können, waren nicht in Sicht, aber für die beiden Kamerateams baute sich Ulbig vor dem Plakat auf, nickte anerkennend und lobte mit ausladenden Handbewegungen und euphorischen Worten das deutlich sichtbare Signal, das auf diese Weise gesetzt werde. Bevor er nach wenigen Minuten wieder in seine Limousine stieg, sagte er in die Mikrofone, die Stadt sei auf einem guten Weg. Die große symbolische Geste ließe vermuten, dass der Minister vorbildliche Demokraten adelte. Die gibt es auch in Limbach-Oberfrohna, nur hatte Ulbig mit denen nicht gesprochen. Die Wahrheit in Limbach-Oberfrohna sieht anders aus als der Blitzbesuch suggeriert. Am Beispiel der Kleinstadt bei Chemnitz kann man viel darüber erfahren, wie Sachsen mit dem Naziproblem umgeht. Es ist ein Lehrstück über Vertuschen, Verdrängen und staatliches Versagen.
Sie machen, was Sonntagsredner fordern
Vor mehr als zwei Jahren gründeten junge Leute den Verein „Soziale und politische Bildungsvereinigung Limbach-Oberfrohna“. Sie waren die Hakenkreuze und Bedrohungen leid, wollten ihrer Stadt mit Vorträgen und Lesungen demokratische Kultur einhauchen. Sie machten das, was Sonntagsredner gern fordern. Als Anerkennung wurden sie für den sächsischen Demokratieförderpreis nominiert. Doch in Limbach wurden sie schnell zu Hassobjekten. Die rechte Szene belagerte das Vereinsheim. Dutzendfach demolierten Angreifer die Fensterscheiben. Anwohner zeigten nicht die Randalierer an, sondern den jungen Vereinsvorsitzenden, der ein zerstörtes Fenster reparierte. Immer wieder jagten rechte Schläger ihre Feinde durch die Stadt. Auf einem Parkfest prügelten sie fünf Jugendliche krankenhausreif, Opfer erlitten eine Gehirnerschütterung und Rippenprellungen. Der örtliche Polizei-Chef bezeichnete die Lage in Limbach gleichwohl als „ruhig“. Man solle eine Gefährlichkeit nicht herbeireden.
An das Unerträgliche gewöhnt
Daniel Drescher, 19, ist ein blasser, schmaler junger Mann mit schwarz gefärbten Haaren, der in Chemnitz Politikwissenschaft studiert. Auf einem Gehweg mitten in der Stadt zeigt er die Stelle, wo ihn ein Neonazi geschlagen und getreten hatte. Drescher musste ins Krankenhaus. Es war nicht das erste Mal. „Seit ich 14 bin wurde ich schon öfters körperlich angegriffen, vielleicht insgesamt 20 Mal.“ Emotionslos erzählt Drescher das, er hat sich an das Unerträgliche gewöhnt. So wie ihm erging es auch anderen, die es wagten, sich individuell zu kleiden oder offen gegen die Verherrlichung des Nationalsozialismus einzutreten. Sie wurden mit Stangen oder Bierflaschen angegriffen. Neonazis überzogen Hauswände und Haltestellen der Stadt mit ihren Parolen: „Nationaler Sozialismus jetzt. Limbach erwache.“ Der Verfassungsschutz stellt fest, dass „freie Kräfte“ in der Stadt aktiv seien, gut vernetzt mit der NPD.
Für den Notruf bezahlen
Und wie reagierte die Stadt? Sie verurteilte in einer Erklärung unterschiedslos „rechte und linke Gewalt“. Nach Angaben der Polizei gab es in den vergangenen Jahren aber gar keine linken Gewalttaten. Die Stadtoberen gaben sich große Mühe, die Opfer wie Täter erscheinen zu lassen. Im so genannten Kriminalpräventiven Rat sprechen Vertreter von Stadt und Polizei hinter verschlossenen Türen über die Sicherheit im Ort. Die geheimen Protokolle der Sitzungen sind Dokumente einer demokratischen Schande. Danach diskutierten die Teilnehmer, zu denen laut Protokoll auch Bürgermeister Hohlfeld gehörte, wie man den Vorsitzenden des Demokratievereins, Moritz Thielicke, wegen Missbrauchs des Notrufs belangen könne. Er sollte dafür bezahlen, dass er die Polizei gerufen hatte. In einer Zeit, in der das Vereinsheim regelmäßig von politisch motivierten Gewalttätern belagert und attackiert wurde. Die Vertreter der Stadt überlegten nicht, wie sie die brutalen rechten Schläger stoppen, sondern wie sie deren demokratische Gegenspieler klein kriegen konnten. Über Moritz Thielicke heißt es: „Er ist ideologisch festgefahren und provoziert gezielt.“ Sie sprachen über ihn wie über einen gefährlichen Kriminellen.
Sachbeschädigung durch Kreide?
Einmal hatten die jungen Leute mit Kreide Umrisse menschlicher Körper auf den Gehweg gemalt. Das sollte an die Opfer rechter Gewalt in Deutschland erinnern. Die Stadt ließ die Kreidestriche von der Feuerwehr wegspritzen und zeigte „Sachbeschädigung“ an. Hätte es nicht auch der nächste Regen getan? Im Ratshaus sagt Kulturdezernent Dietrich Oberschelp, seit einiger Zeit auch so genannter „Präventionskoordinator“, dazu: „Das weiß ich nicht, weil ich die meteorologische Ansage aus dieser Zeit nicht im Kopf habe.“ Ihm gelingt es, fast eine Stunde lang allgemein von Gewalttaten zu sprechen, ohne das Problem rechter Gewalt beim Namen zu nennen. Zu unterscheiden, ob es sich um linke oder rechte Gewalt handelt, mache keinen Sinn, so Oberschelp. Ein Bekenntnis einzufordern, dass die Stadt ein Problem mit dem "Rechtsextremismus" habe, erscheine ihm mittelalterlich. Das ist die Haltung derjenigen, denen Innenminister Ulbig bei seinem Besuch bescheinigt, angemessen zu reagieren. Die Strategie der Verharmlosung hat Limbach-Oberfrohna an den Rand einer Katastrophe geführt: Im November zündete mutmaßlich ein Neonazi das Haus des verhassten Vereins an. Die Feuerwehr musste Anwohner evakuieren. Nur mit Glück kam niemand zu Schaden. Der Bürgermeister äußerte darauf hin den Wunsch, Rechte und Linke mögen sich doch zusammensetzen und aussprechen. Politisch motivierte Gewalt von rechts ist in Limbach-Oberfrohna lange systematisch bagatellisiert worden.
Mügeln, Geithain…
Der Fall ist wie ein Déjà-vu zu Mügeln, der Stadt, wo vor Jahren der Mob die Inder jagte. Dort griffen Neonazis vor zwei Jahren „Sieg heil“ brüllend das Vereinsheim von „Vive le Courage“ an, hetzten im Internet gegen deren Mitglieder, jagten sie durch den Ort und verletzten etliche von ihnen. Auf dem Marktplatz sangen Neonazis vor einem Jahr, sie würden eine U-Bahn von Jerusalem nach Auschwitz bauen. Auch in Mügeln weigerten sich die Politiker, angeführt vom langjährigen FDP-Bürgermeister Deuse, beharrlich, von einem rechten Problem zu sprechen. Die Opfer, die Konzerte und Lesungen gegen Rassismus organisierten, wurden als Provokateure und Linksextremisten gebrandmarkt. Die Stadtoberen stellten sich nicht schützend vor die jungen Demokraten, sondern setzten im Gegenteil das Landratsamt auf sie an. Das Vereinsheim wurde geschlossen. Die Liste schwerster rechter Gewaltstraftaten in Sachsen ist lang. In Geithain fahndeten „freie Kräfte“ im Internet nach einem jungen Mann mit bunten Haaren. An einer Tankstelle wurde er bei einem Überfall schließlich so brutal verletzt, dass ihm in einer Operation eine Metallplatte in den Kopf eingesetzt werden musste.
Im Notfall: Polizei kommt erst in einer dreiviertel Stunde
Auf diese sächsischen Zustände reagierte Innenminister Ulbig, indem er der zuvor klammheimlich zusammen gekürzten "Sonderkommission Rechtsextremismus", kurz Soko Rex, einige neue Stellen gewährte, zugleich aber den Abbau mehrerer Tausend regulärer Stellen bei der Polizei vorantrieb. Häufig wird die Soko Rex aber bei Ermittlungen gar nicht hinzu gezogen. Polizeigewerkschafter warnen, Opfer von Gewalttaten müssten künftig deutlich länger auf Hilfe warten. Schon heute berichten Opfer, dass es bisweilen eine Dreiviertelstunde dauert, bis die Polizei kommt. Ein Kommissar, der anonym bleiben möchte, weil er Konsequenzen von oben fürchtet, sagt, dass die sächsische Polizei schon heute heillos überfordert sei, wenn es abseits der Großstädte zu Gewaltexzessen wie seinerzeit in Mügeln komme. Wer in einer Kleinstadt wie Borna eine Schule besucht, bekommt schon mal von einer Schülerin zu hören, wie ihr Kopf von einem rechten Schläger gegen eine Laterne gestoßen wurde. Diese alltägliche rechte Gewalt findet sich in keiner Zeitung, auch in keiner Statistik. So kommt es, dass das sächsische Innenministerium im vorigen Jahr weniger als 100 rechte Gewalttaten zählte, die Opferberatung RAA aber 239.
Die an die Leine legen, die sich wehren
Diese sächsischen Zustände muss man kennen, um die Debatte, die derzeit um die so genannte Extremismusklausel tobt, einordnen zu können. Innenminister Ulbig lässt sich auch vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages nicht davon abbringen, den Initiativen, die Geld für demokratische Projekte beantragen, ein Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung abzunötigen. Die Wissenschaftler des Bundestages mahnen, der Staat dürfe dieses Bekenntnis nur in Ausnahmefällen einfordern: von Beamten und bei der Einbürgerung. Damit nicht genug. Initiativen sollen in Sachsen, einer Vorgabe von Bundesfamilienministerin Schröder folgend, Pressemitteilungen vom Sozialministerium genehmigen lassen. Ausgewiesene Experten, die vor Ort über Jahre Informationen über rechte Gewalt und das Versagen der Kommunen gesammelt haben und als einzige Klartext reden, sollen an die kurze staatliche Leine gelegt werden. Das passt in ein Regime, das sich „gelenkte Demokratie“ nennt, aber nicht in eine westliche Demokratie.
Es kämpfen nicht die Falschen, sondern beschämend wenige gegen Neonazis
Der Minister und die sächsische Regierung konstruieren wider besseren Wissens ein Scheinproblem, das von den permanent unerträglichen Zuständen im Land ablenkt. Dem unpolitischen Betrachter mag es wie eine Kleinigkeit erscheinen: Wer Geld vom Staat will, kann ruhig auch ein Bekenntnis zur Verfassung abgeben. Aber mit der vermeintlichen Selbstverständlichkeit wird zugleich suggeriert, dass die Falschen gegen Rechts kämpfen, nämlich Linke mit fragwürdiger Gesinnung. Doch in Sachsen kämpfen nicht die Falschen, sondern beschämend wenige gegen die Alltagsmacht rechter Gewalttäter. Während Neonazis Kleinstädte terrorisieren, nimmt die Regierung deren demokratische Gegenspieler ins Visier, die seit Jahren erfolgreich Kommunen und Vereine beraten oder Opfern rechter Gewalt helfen. Die aber eben beim Zählen rechter Gewalttaten oftmals zu anderen Ergebnissen kommen als die schwarzgelbe Regierung. Diese Unbequemen kontrollieren zu wollen, muss eine große Versuchung sein. Es geht um Deutungshoheit. Doch nicht die Engagierten sind eine Gefahr für die Demokratie, sondern die Bürgermeister und Politiker, die wegschauen, Partizipation und Pluralismus in ihren Orten unterdrücken und eine Wirklichkeit leugnen, in der für einige Bürger die Grundrechte außer Kraft gesetzt sind. Die schlechten Demokraten, die mancher in Sachsen an bunten Haaren zu erkennen glaubt, tragen oftmals Krawatte und Anzug, sitzen in einem schmucken Rathaus und sorgen sich so sehr um den guten Ruf ihrer Städte, dass sie alles vertuschen, was schlechte Schlagzeilen bringen könnte.
Vom Bürgermeister zum Minister
Als Bürgermeister von Pirna hat Ulbig vorgemacht, wie man rechte Alltagsmacht bricht. Pirna war Hochburg der Kameradschaft Skinheads Sächsische Schweiz (SSS). Die terrorisierte über Jahre die Region, Opfer überlebten Angriffe nur mit Glück. Ulbig war der erste CDU-Bürgermeister, der das Problem offen ansprach. Der mit engagierten Bürgern die rechte Dominanz aus Angst und Gewalt beendete: mit interkulturellen Festen, Ausstellungen und klaren Worten. Als Bürgermeister hat Ulbig erfahren, dass ohne engagierte Demokraten demokratiefreie Zonen entstehen, weil dann Neonazis Straßen und Lufthoheit erobern. Als Minister stellt er diejenigen, die es so machen wie seine ehemaligen Weggefährten von der Aktion Zivilcourage, unter Generalverdacht. Und das ohne Not. Beispiele für linksextrem unterwanderte Initiativen bleibt er schuldig. Als Minister folgt Ulbig den opportunistischen Spielregeln der Politik. Danach diktiert nicht das reale Problem das Handeln, sondern die medial erzeugte Außenwirkung. Weil ganz Deutschland auf die gewalttätigen Demonstrationen am 13. Februar in Dresden schaut, versammelt er eine prominente Podiumsrunde zu der Frage, was Protest gegen Neonazis darf und was nicht. Seine Antwort auf einen permanenten, weithin unbeachteten Skandal wie den in Limbach-Oberfrohna besteht aus einem Blitzbesuch und mageren Worten. Das klare Wort machte Ulbig einst zum Minister. Es ist ihm abhanden gekommen.
Der konservative Reflex, immer auch gegen "Linksextremismus" vorgehen zu wollen, wenn "Rechtsextremismus" das Problem ist, führt bisweilen zu absurden Aktionen. In Limbach-Oberfrohna gründete der CDU-Abgeordnete Jan Hippold ein Bündnis gegen Extremismus. Da durfte anfangs auch der Stadtrat von der NPD mitmachen. So wird vermeintliches Engagement zur Farce. Zuvor hatte Hippold noch vergeblich versucht, die Eltern der Gewaltopfer davon abzubringen, ein Bündnis für Demokratie zu gründen. So erzählen es die Eltern. Auch das ist Demokratie in Sachsen.
„Unendlich allein“
Der Streit über Extremismusklauseln und Demokratieerklärungen wird auf dem Rücken der Opfer rechter Gewalt ausgetragen. Sibylle und Jörn Wunderlich sitzen in ihrer kleinen Stube in Limbach-Oberfrohna vor einer Wand mit Familienfotos und schildern ihr Leben in der Kleinstadt. Er ist Richter und sitzt für die Partei „Die Linke“ im Bundestag. Ihr Sohn engagiert sich im Demokratieverein. Seitdem ist bei Wunderlichs die Angst eingezogen. Vor einem Jahr stand eine Bande Vermummter vor ihrem Haus und forderte ihren Sohn auf, raus zu kommen. Er blieb im Haus. Das hatten ihm die Eltern eingeschärft. Daraufhin demolierten Vermummte die Fensterscheiben im Erdgeschoss. Sibylle Wunderlich erzählt, wie sie nachts oft wach liegt und darauf wartet, dass ihr Sohn anruft. Dann setzt sie sich ins Auto und holt ihn ab, damit er nicht allein durch Straßen gehen muss, in denen er auf Neonazis treffen könnte. „Taxi Mama“, nennt sie das sarkastisch. Wie fühlt sie sich dabei? Sibylle Wunderlich atmet hörbar aus und schweigt. „Ich fühle mich allein gelassen“, sagt sie schließlich, und dann dehnt sie jede Silbe wie nach einem langen Schlaf, „unendlich allein.“
Der Artikel wurde erstveröffentlicht auf Mut gegen rechte Gewalt und erschien am 01.06.2011, kurz vor den jüngsten Ereignissen vom 10./11.06.2011
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Michael Kraske ist Journalist und Buchautor („Und morgen das ganze Land – Neue Nazis, befreite Zonen und die tägliche Angst. Ein Insiderbericht", erschienen bei Herder, erhältlich bei der Bundeszentrale für politische Bildung). Er wurde mehrfach ausgezeichnet für seine Berichterstattung über Ostdeutschland, zuletzt 2010 mit dem Sächsischen Journalistenpreis für die Reportagen „Mügeln und die Courage“ und „Das gute Leben des Herrn Khoi“. Im vergangenen Jahr wurde seine Reportage „Der ganz normale Hass“ über den alltäglichen Antisemitismus gegen einen jüdischen Gastronomen für den Deutschen Reporterpreis nominiert.
Zuletzt aktualisiert am 26.01.2022